Bitterer Beigeschmack
Alle großen Gourmetführer haben trotz Corona ihre Urteile gefällt – Lockdown und Schließungen trüben jedoch die Freude der Spitzenköche
- Auch wenn die Gastronomie im Augenblick schwer angeschlagen am Boden liegt – und wegen der Corona-Pandemie manche Restaurants auch nicht wieder aufstehen werden – tun die diversen Feinschmecker-Bibeln allesamt ein bisschen so, als sei überhaupt nichts passiert: Gault-Millau, Guide Michelin, Gusto, Schlemmer-Atlas oder Varta-Führer, um nur die Größeren zu nennen, sind trotzdem erschienen. Ungeachtet der Tatsache, dass Betriebe in Lockdowns waren und noch immer verharren. Und die Arbeitsumstände auch in den geöffneten Phasen mit normalen Jahren beim besten Willen nicht vergleichbar sind. Davon ungerührt, stellen sich die Gourmet-Führer auf den Standpunkt, dass ein Restaurant, das von Inspektoren offen angetroffen werde, auch nach den üblichen Kriterien bewertet werden könne. Oder wie es beim GaultMillau lapidar heißt: „Wer bewirtet, wird bewertet.“
Dass man das durchaus auch sehr kritisch sehen kann, ergibt sich aus den Kommentaren diverser Köche aus der Region. „Die haben nicht alle Latten am Zaun“, gehört dabei noch zu den Beurteilungen der freundlicheren Art, die man derzeit bei einer Umfrage am Telefon bekommt. Das Corona-Jahr 2020 habe alles auf den Kopf gestellt. Da sei es nur schwer zu verstehen, dass die Fachverlage einfach so weitermachten wie in jeder Saison. Dass es dabei zu peinlichen Fehlern kommen kann, zeigt das Restaurant Ernst in Berlin: Der Gault-Millau bewertet es in der aktuellen Ausgabe, die zu Beginn des Advents erschien, mit 17 von 20 Punkten – dabei existierte das Haus schon Mitte Oktober nicht mehr.
Bei aller Kritik an den Feinschmecker-Bibeln und ihren durchaus intransparenten Bewertungsverfahren: Kommen Gastronomen gut weg, überwiegt natürlich die Freude. Denn viele Freunde des guten Essens hören auf den Rat der Führer, manche planen sogar ihre Reiserouten entlang der am besten bewerteten Häuser. Und doch bleibt ein fader Beigeschmack beim Blättern durch die Ausgaben 2021, weil die Frage im Raum steht, wie belastbar die Urteile in einem solchen Seuchenjahr sind. Und ob die großen Führer nicht Vertrauen verspielen, wenn sie so tun, als sei nichts gewesen.
Mark Beastall gehört zu jenen Köchen, die sich nicht beklagen können über die Gourmet-Führer. Der Gusto verleiht ihm aktuell sieben von zehn möglichen Pfannen. Beim Gault-Millau hat das Restaurant Valentin in Lindau, in dem der 39-Jährige Küchenchef ist, einen Punkt dazugewonnen. Und die Tester unterstreichen die aufsteigende Form des Restaurants mit dem schönen Schlusssatz, nachdem sie zuvor durchaus auch Kritisches haben anklingen lassen: „Wenn das Valentin seinen hohen konzeptionellen Anspruch und die erfreulich kreativen Produktkombinationen mit mehr Achtsamkeit bei der Zubereitung kombiniert, kann hier höchst Spannendes entstehen.“Der aus England stammende Koch macht keinen Hehl daraus, dass er aber vor allem nach einem Michelin-Stern strebt. „Das ist das Ziel, das ist mein Fokus.“Man werde noch mehr Gas geben als im vergangenen Jahr, sobald Corona es wieder zulasse, Gäste zu empfangen. „Es ist Zeit, die Lindauer Insel auf die kulinarische Landkarte zu setzen“, sagt Beastall voller Selbstbewusstsein. Alle Zeichen deuteten in die richtige Richtung. Seinen Küchenstil beschreibt er als europäisch-modern mit saisonalem Schwerpunkt. „Und einem asiatischen Touch.“
Das Fazit für unsere Region in der Gesamtbetrachtung inklusive des Ulmer und Konstanzer Raumes: Hiesige Feinschmecker haben unverändert die Wahl zwischen zehn Sterne-Restaurants, die Spitzenküche sehr unterschiedlich interpretieren. Seit 2015 an der Spitze mit zwei Michelin-Sternen und 18 von 20 möglichen Punkten im Gault-Millau steht das Restaurant Ophelia in Konstanz, wo Dirk Hoberg seine filigrane Tellerkunst – mal klar, mal verspielt – an den Tisch bringt. Das San Martino – ebenfalls in Konstanz beheimatet – hält seit geraumer Zeit mit mediterran inspirierter Küche einen Michelin-Stern.
Heiko Lacher in seinem Restaurant Anima in Tuttlingen hat nicht nur seinen Michelin-Stern erfolgreich verteidigt, der Gault-Millau hat die Leistungen seiner raffinierten Naturküche mit einem zusätzlichen Punkt von 15 auf 16 geehrt. Eine ganz besondere Konstante ist
Markus Philippi im Meersburger Restaurant Casala. Dort verbindet er die bodenständigen Qualitäten regionaler Herkunft mit kreativer Eleganz, die der Michelin schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit einem Stern ehrt – und der GaultMillau
mit 17 Punkten feiert.
Ebenfalls zu den jüngeren Köchen, die erfolgreich nach den Sternen gegriffen haben, zählt Roland Pieber. Er ist Küchenchef im Restaurant Seo Küchenhandwerk in Langenargen. Sein Stern leuchtet seit 2020. Der junge Österreicher schafft es, eine moderne und effektvolle Küche mit alpenländischen Akzenten zu erden, etwa wenn er seine Schlutzkrapfen einer eleganten Veredelung mit Trüffel unterzieht. Der Gault-Millau findet, dass Piebers Ambitionen 15 Punkte wert sind. In Lindau hat Toni Neumann im Villino einmal mehr den Michelin-Stern verteidigt, ebenso die 16 Punkte im Gault-Millau. Dieser frohlockt in der aktuellen Ausgabe über „zupackend und dabei sehr ausbalanciert“gewürzte Teigtaschen Bao Bun, Schweinebauch und Paprikaspaghetti.
Im Restaurant Schattbuch in Amtzell hat das Team heuer gewiss besonders gespannt auf das Erscheinen des Michelin gewartet. Anfang 2020 hat nämlich Christian Grundl seinen Posten als Küchenchef geräumt – und die spannende Frage nach so einem Weggang ist immer: Kann sein Nachfolger – im konkreten Fall Sebastian Cihlars – den Stern halten? Er kann. Und auch die 16 Punkte im Gault-Millau für eine einerseits modern-edle, aber auch regionalverbundene Küche mit Bodenhaftung.
Zwei Restaurants in Ulm – der Seestern und das Siedepunkt – vervollständigen den Reigen aus Sternerestaurants in der Region. Wobei der Seestern laut GaultMillau mit einer Steigerung von 15 auf 17 Punkte einen bemerkenswerten Sprung hingelegt hat – und damit eine „überfällige deutliche Aufwertung“erfährt, wie die Tester schreiben. Besonders freuen dürfte sich Peter Ebbinghaus vom gleichnamigen Restaurant in Burgrieden, der für seine langjährige konstante Arbeit vom Gault-Millau endlich 15 Punkte und damit zwei Hauben verliehen bekommen hat.
Doch auch knapp unterhalb der Sterne-Grenze, von der niemand so ganz genau weiß, wo sie eigentlich gezogen wird, gibt es Erfreuliches zu berichten. Gleich eine ganze Reihe von Restaurants taucht erstmals als Empfehlung im GaultMillau auf, im Einzelnen sind das: die Hofwirtschaft Löwen in Eglofs, wo Familie Ellgass tolles Fleisch von Rindern aus eigener Weidehaltung auftischt. Außerdem empfohlen der Löwen in Frickingen, das Restaurant Imhof in Illertissen, endlich auch das kontinuierlich delikat aufkochende Lamm in Maselheim, das Haus am See in Nonnenhorn,
der Landgasthof Hirsch in Ostrach, das Restaurant Esszimmer im Oberschwäbischen Hof in Schwendi, das Restaurant Treibgut in Ulm und schließlich die Alte Kanzlei in Wangen im Allgäu.
Im Jahr 2020 hat der Guide Michelin erstmals den sogenannten grünen Stern aufgelegt, der Restaurants mit besonders nachhaltigem Konzept auszeichnet. Pionier der Region mit dem grünen Stern war das Biohotel Mohren im Deggenhausertal. Außerdem Simon Tress von der Schwäbischen Alb. Der darf sich jetzt neben dem grünen Stern für die Rose in Hayingen zusätzlich über einen neuen für das Bio-Fine-Dining-Restaurant 1950 unterm gleichen Dach freuen. Das Ulmer Restaurant Treibgut hat diese Ehrung für Nachhaltigkeit heuer zum ersten Mal bekommen.
Einen nennenswerten Abstieg in der kulinarischen Landschaft unserer Region hat keines der ambitionierten Häuser hinnehmen müssen. Und – Stand heute – hat Corona keines dieser gehobenen Restaurants zu Fall gebracht. Was allerdings auffällt – und zwar bereits seit Jahren – dass gerade die wirtschaftlich sehr starken Zentren wie Friedrichshafen und Ravensburg, die auch aufgrund vieler Firmensitze internationales Publikum anziehen, keine kulinarischen Fixsterne beherbergen. Sodass die großen Führer kaum Notiz von diesen großen Städten nehmen. Einzige Ausnahme ist der Lumperhof in Ravensburg, der es immerhin auf eine Empfehlung ohne weitere Wertung im GaultMillau bringt. Warum das so ist? Ein Unternehmer, der seine Aussage schon damals auf keinen Fall in der Zeitung lesen mochte, sagte schon vor Jahren hinter vorgehaltener Hand: „In Schwaben ist es immer noch unüblich, ja verpönt, seinen Erfolg öffentlich zu zeigen.“Ein Benz in der Garage, das gehe gerade noch. Aber damit vor einem Restaurant zu parken, von dem die Leute wüssten, dass das Menü 150 Euro koste, gehe gar nicht. Da esse man halt lieber auswärts.
Ob diese Einschätzung wirklich stimmt und ein Spitzenrestaurant in Friedrichshafen oder Ravensburg aus Wohlstandsscham tatsächlich keinen Erfolg hätte, kann freilich nicht überprüft werden. Denn weder da noch dort ist im Augenblick ein Stern in Sicht.