„Dass es beim Impfen und bei den Schnelltests nicht vorangeht, ist skandalös“
Der Parteivorsitzende Christian Lindner zur Corona-Politik und den Wahlaussichten der Liberalen im Südwesten
BERLIN - Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner fordert einen Politikwechsel in der Corona-Pandemie. Es brauche eine Öffnungsstrategie und flexiblere Lösungen, sagte der 42-Jährige im Interview mit Claudia Kling und Igor Steinle. Auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg blickt Lindner mit Optimismus: Umfragen von zehn Prozent seien „für die FDP exzellent“. Seine Partei sei im Bund und in den Ländern allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen an Koalitionen interessiert. Steuererhöhungen und ein Defacto-Verbot neuer Einfamilienhäuser werde die FDP nicht mittragen, kündigte der Fraktionschef der Liberalen im Bundestag an.
Herr Lindner, heute tagt die Kanzlerin erneut mit den Ministerpräsidenten. Welche Erwartungen haben Sie?
Wir brauchen eine Öffnungsperspektive. Frau Merkel hat das Wort Öffnung bereits gebraucht, aber dafür solche Bedingungen definiert, dass es in Wahrheit nur eine neue Sprache und keine neue Politik ist. Wir erwarten einen Stufenplan, der ab jetzt regional Öffnungen erlaubt. Mit Tests und Hygienekonzepten ist trotz der bescheidenen Fortschritte beim Impfen schon heute mehr gesellschaftliches Leben möglich. Dass in Gegenden mit geringen Infektionszahlen noch immer alles dicht ist, wirkt unverhältnismäßig. Wir brauchen ein flexibleres Vorgehen, das vor Ort Öffnungen zulässt oder auch die Notbremse zieht, je nachdem, wie sich das Pandemiegeschehen entwickelt.
Sie fordern Öffnungen, tragen aber in den Ländern die Beschränkungen mit. Ist das nicht etwas wohlfeil?
Sie unterliegen einem Missverständnis. In der Runde der Kanzlerin mit den Ländern ist kein Liberaler beteiligt. Die Krisenstrategie wird vom CDU-geführten Kanzleramt geprägt. Tatsächlich ist es vorgekommen, dass durch die Bund-Länder-Runde Beschlüsse der Landeskabinette, denen wir angehören, zur Makulatur wurden. Ich halte es für richtig, dass die Länder die im Bund getroffenen Entscheidungen rechtsstaatlich umsetzen. Politisch muss es in Berlin aber zu einem Politikwechsel kommen.
Die FDP wurde in den vergangenen Jahren etwas irrlichternd wahrgenommen. Hat Ihre Partei in der Corona-Pandemie ihre Rolle gefunden?
Die war auch vorher klar. Unsere Positionen haben sich nicht verändert, aber offenbar deren Wahrnehmung. Für uns waren Freiheitsrechte, wirtschaftliche Erneuerung, digitale Modernisierung schon vor der Pandemie wichtig. Jetzt haben diese Fragen eine neue Dringlichkeit, weil die Einschränkung von Bürgerrechten nichts Abstraktes mehr ist, wenn die
Menschen sich nicht mehr in der Familie treffen können und die Freiheit der Berufsausübung eingeschränkt ist. Angesichts der millionenfachen Sorgen um die eigene Existenz ist wirtschaftlicher Sachverstand auch keine Luxusfrage, und die Defizite der Digitalisierung sind uns allen vor Augen geführt worden – von der Schule bis hin zur Verwaltung.
Wo sehen Sie die größten Defizite der Exekutive in der Krise?
Dass es beim Impfen und bei den Schnelltests nicht vorangeht, ist skandalös. Da wünschen wir uns mehr Managementkompetenz, damit das Land nicht ohne Not länger im Lockdown bleibt. Wir müssten nicht einmal etwas Neues erfinden, sondern uns nur daran orientieren, was Nachbarn wie Dänemark und Österreich bereits erfolgreich in die Praxis umgesetzt haben.
Ist Deutschland nicht mehr in der Lage, Projekte wie massenhaftes Impfen, Digitalisierung oder auch große Bauprojekte umzusetzen?
Das Land schon, Politik und Staat eher nicht. Das zeigt sich seit Jahren. Ich erinnere an das schlechte Management der Flüchtlingskrise, die Energiewende, die nicht funktioniert, Genehmigungsvorhaben, die nicht vorangehen. Dafür gibt es Gründe. Der eine ist die Selbstfesselung unseres Staates mit unendlich viel Bürokratie. Der andere, dass der Staat zu viel lenken und kontrollieren will, wie etwa im Bereich der Energiewende, in der er auf Planwirtschaft statt marktwirtschaftlichen Erfindergeist setzt.
Warum hört man in der CoronaPandemie so wenig von der Opposition im Bundestag?
Ich beteilige mich nicht an Medienkritik. Wir schlagen seit Monaten jeden Tag konkrete Verbesserungen vor. Zum Beispiel, dass ergänzend zu den bürokratischen Wirtschaftshilfen ganz einfach im Steuerrecht die Verluste der Jahre 2020 und 2021 gegen die Gewinne der Jahre seit 2017 verrechnet werden. Tatsächlich wäre die Opposition insgesamt aber wirksamer, wenn die Grünen sich nicht bereits wie in einer Koalition mit der CDU fühlen würden.
Ist das Ihr Weg, sich in der CoronaPandemie als bessere Alternative darzustellen?
Es ist einfach unser Stil. Ich empfinde einen politischen Ekel gegenüber der AfD, deren Abgeordnete ihre Mandate zu retten versuchen, indem sie besonders verletzend und spaltend reden, ohne inhaltliche Konzepte. Wer das wählt, ist selbst schuld. Zugleich erstaunt mich die Geschmeidigkeit der Grünen, die der Sehnsucht nach Dienstwagen mit Elektroantrieb viel kritisches Bewusstsein geopfert haben. Die FDP verbindet die leider notwendige Kritik an der Regierung immer mit einem Gegenkonzept. Von uns werden sie auch keine Relativierung von Virus oder Mutationen hören, sondern Strategien, die Gesundheitsschutz und Freiheit besser ausbalancieren, als die Regierung das vermag. Wir wollen so zur Beruhigung im Land beitragen. Natürlich könnten wir schriller öffentlich auftreten, aber damit würden wir die ohnehin vorhandene Nervosität und Gereiztheit noch anfachen. Wer im September Regierungsverantwortung für die Bundesrepublik Deutschland übernehmen will, darf kein Interesse daran haben, dass sich die Gräben vertiefen.
Wieso wird es von den Wählern nicht mehr honoriert, dass Sie sich um deren Bürgerrechte sorgen? In den Umfragen im Bund liegen Sie derzeit bei circa acht Prozent.
Uns geht es nicht um Umfragen, sondern ums Land. Allerdings sind Umfragen von zehn Prozent in BadenWürttemberg mit einer Perspektive auf Regierungsbeteiligung im historischen Vergleich für die FDP exzellent. Viele Menschen wollen eine andere Politik, deshalb blicke ich mit Optimismus auf den Wahltag im Südwesten. Auch im Bund sehe ich durchaus die Chance auf ein zweistelliges Ergebnis. Das wäre eine Premiere in unserer Geschichte, wenn wir bei zwei Bundestagswahlen nacheinander zweistellig abschneiden würden.
Der Satz „Besser nicht regieren als falsch regieren“hängt Ihnen immer noch nach. Gilt dieser Satz auch in diesem Superwahljahr?
Ich werde in diesem Jahr sogar Werbung machen mit unserer JamaikaEntscheidung von 2017. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass es der FDP nicht um Dienstwagen, sondern um Inhalte geht. Ich könnte hier im Interview als Vizekanzler und Finanzminister sitzen. Das habe ich abgelehnt, weil ich die zentralen Wahlzusagen meiner Partei nicht hätte erfüllen können. Die Abschaffung des Soli, das Digitalministerium, ein modernes Einwanderungsrecht – das wäre nicht umsetzbar gewesen. Derzeit sprechen alle über Steuererhöhungen. Ich gebe die politische Garantie, dass es mit der FDP keine neuen Belastungen für Beschäftigte geben wird. Auch nicht für diejenigen, die unternehmerisches Risiko für Arbeitsplätze tragen. Mit der FDP wird es auch keine Politik geben, die de facto neue Einfamilienhäuser verbietet. Gleiches gilt für die Kollegen in Baden-Württemberg.
Was muss die Grünen eine Ampel in Baden-Württemberg kosten?
Über eine mögliche Koalition entscheidet der Landesverband im Südwesten. Aber ich kann drei Aspekte hervorheben. Baden-Württemberg konnte einmal stolz sein auf sein Bildungssystem. Bedauerlicherweise befindet es sich nur noch im Mittelfeld. Deswegen brauchen wir eine Politik, die das Bildungssystem wieder vernünftig ausstattet und Leistungsfreude vermittelt. Außerdem muss es im Land mit der digitalen Infrastruktur vorangehen. Ich war vor kurzem im Remstal, dort gab es nicht nur schlechten Empfang, sondern überhaupt kein Internet. Und das in einem Land mit Weltmarktführern!
Und drittens?
Die Schlüsselbranchen leiden aufgrund des technologischen Wandels und falscher politischen Rahmenbedingungen. Die Automobilindustrie steht vor einem Strukturbruch, wenn weiter nur einseitig batterieelektrische Antriebe gefördert werden und Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe keine faire Chance erhalten. Hyundai und Toyota sind so dumm nicht, wenn sie sich, anders als die deutsche Politik, auch noch andere Technologieoptionen offenhalten. Dabei könnten wir, wenn wir die Energiewende europäisch denken, jede Menge grünen Wasserstoff herstellen, beispielsweise im sonnenreichen Kalabrien, um daraus dann synthetische Kraftstoffe herzustellen.
Zu welchem Koalitionspartner tendieren Sie?
Die größten Überschneidungen gibt es im Bund mit der Union, auch wenn sie sich nicht klar zur Schuldenbremse bekennt, Steuererhöhungen nicht ausschließt und generell ambitionslos wirkt. SPD, Grüne und Linke allerdings wollen die Steuern erhöhen, die Umverteilungsmaschine bis zum bedingungslosen Grundeinkommen anschmeißen, effiziente Dieselmotoren und Einfamilienhäuser bekämpfen und in Europa eine Schuldenunion einführen. Was sollte da attraktiv für uns sein?