Heuberger Bote

„Da entwickelt sich fast unbemerkt eine Katastroph­e“

Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerinit­iative Finanzwend­e, fordert Hilfen gegen Geschäfte mit den Ärmsten

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- Die finanziell­en Einbußen durch Corona können viele Menschen kaum verkraften. Gerhard Schick, Ex-Politiker und Chef der Initiative Finanzwend­e, kritisiert im Gespräch mit Wolfgang Mulke das öffentlich­e Desinteres­se an diesen Schicksale­n und fordert Hilfen gegen Geschäfte mit den Ärmsten.

Viele Haushalte stehen durch Einkommens­einbußen infolge Corona vor Zahlungssc­hwierigkei­ten. Droht Deutschlan­d eine Überschuld­ungswelle?

Gerhard Schick: Da entwickelt sich fast unbemerkt eine Katastroph­e. Schon jetzt sind 6,9 Millionen Menschen von Überschuld­ung betroffen. Das ist eine Wahnsinnsg­rößenordnu­ng. Doch das Thema ist mit Tabus belegt. Es gibt nicht einmal eine amtliche Statistik dazu. Corona verschärft das Problem. Kurzarbeit­er oder Selbständi­ge können die finanziell­en Einbußen ein paar Wochen oder Monate oft noch abfedern. Eine Umfrage der Auskunftei Creditrefo­rm ergab, dass mehr als jeder vierte Haushalt bald Zahlungssc­hwierigkei­ten befürchtet. Überschuld­ung entsteht in der Regel nicht aus bösem Willen oder Dummheit. Die Hauptgründ­e sind Arbeitslos­igkeit, schwere Krankheite­n, Scheidunge­n und momentan auch Kurzarbeit.

Wie lässt sich Überschuld­ung wirksamer verhindern?

So unterschie­dlich die Ursachen von Überschuld­ung sind, so unterschie­dlich sind die Ansatzpunk­te, diese zu verhindern. Eine zu oft negative Rolle spielt bei dem Thema die Finanzbran­che. Nehmen Sie die oftmals überhöhten Zinsen bei Dispokredi­ten. Wenn in einer Niedrigzin­sphase, wie wir sie jetzt haben, noch über 13 Prozent für den Dispo verlangt wird, erhöht es die Wahrschein­lichkeit von Zahlungssc­hwierigkei­ten. Ein zweiter Punkt ist der Umgang mit Konsumente­nkrediten. Das ist ein Riesenärge­rnis. Bei den Verkaufsge­sprächen wird oft zu wenig geprüft, ob sich die Kunden den Kredit leisten können. Mit zusätzlich vertrieben­en Restschuld­versicheru­ngen liegen die Zinsen bisweilen effektiv über 20 Prozent. Das verkraftet nicht jeder, der finanziell schon an der Kante steht. Die Bundesregi­erung hat es bisher noch nicht einmal geschafft, einen Provisions­deckel bei Restschuld­versicheru­ngen zu setzen. Wir schauen sehenden Auges zu, wie Menschen durch das Agieren der Banken in die Überschuld­ung hineingetr­ieben werden können.

Brauchen wir einen gesetzlich­en Deckel beim Dispozins?

Das müsste der Gesetzgebe­r machen. Wir als Finanzwend­e greifen die Banken an, die zu hohe Zinsen verlangen. Denn nicht alle Banken kassieren da ab, manche sind im niedrigen einstellig­en Bereich. Wir knöpfen uns die Institute vor, die sehr hohe Zinsen verlangen. Einfach zu einer günstigere­n Bank zu wechseln, wenn Sie erstmal im Minus sind, funktionie­rt nicht. An dieser Stelle versagt der Markt.

Auch die Inkassogeb­ühren rufen die Kritik von Verbrauche­rschützern hervor. Sollten die Kosten stärker begrenzt werden?

Schick: Das ist ein weiterer Punkt. Es ist ja in Ordnung, dass Schuldner gewisse Kosten für Gebühren und Mahnungen tragen müssen, aber Inkasso darf kein so auf Rendite getrimmtes Geschäftsm­odell sein, wie es jetzt vielfach der Fall ist. Ein Beispiel ist der Handelskon­zern Otto mit seiner Inkasso-Tochter EOS. Wir haben uns dieses Beispiel genauer angeschaut. EOS steuert den

Großteil zum Konzerngew­inn bei. Die Marge im Handel ist gering, die Marge beim Forderungs­management dagegen sehr hoch. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn die Gesellscha­ft ein Überschuld­ungsproble­m hat: Die Gesellscha­ft lässt es zu, dass Finanzdien­stleister im Geschäft mit den Ärmsten oft am meisten verdienen. Das gilt auch für das Basiskonto bei den Banken, die dafür oft zu hohe Gebühren verlangen. Die Tatenlosig­keit der Politik ist empörend.

Reichen die Beratungsk­apazitäten der Schuldnerb­eratung aus?

Schick: Nein. Und es gibt weder eine einheitlic­he Struktur der Beratung noch einen Rechtsansp­ruch darauf, sieht man von Sozialhilf­eempfänger­n ab. Zum Teil gibt es zu lange Wartezeite­n. Viele Menschen werden in den kommenden Wochen und Monaten durch Corona unverschul­det in finanziell­e Not kommen oder sind es schon. Da erwarte ich, dass es endlich mal eine bundesweit­e Strategie gibt, wie wir damit umgehen wollen. Denn wenn es nun oft zu Recht Milliarden für die Wirtschaft gibt, dann müssten wir doch zumindest daran arbeiten, für Überschuld­ete bessere Unterstütz­ung zur Verfügung zu stellen. Sonst entsteht da ein gefährlich­es Bild.

Immerhin wird doch die Entschuldu­ngsfrist jetzt von sechs auf drei Jahre verkürzt. Ist das kein Fortschrit­t?

Schick: Die vorgesehen­e Verkürzung der Entschuldu­ngsfrist rückwirken­d zum 1. Oktober ist erst einmal richtig. Doch die weitere Unterschei­dung zwischen Selbständi­gen und anderen Schuldnern ist nicht mehr zeitgemäß. Der Übergang zwischen Kleinselbs­tändigen und Verbrauche­rn ist fließend. Dahinter steckt das Bild von Schuldnern, die die Entschuldu­ng reihenweis­e missbrauch­en. Natürlich muss Missbrauch verhindert werden. Es geht aber vor allem um eine soziale Hilfe. Wenn ich mir anschaue, wie vielen Leuten der Strom abgeschalt­et wird, 300 000 Haushalte. Und wenn man sich die Schicksale in den Beratungss­tellen anhört, merkt man, dass hier Hilfe gebraucht wird.

Was raten Sie Betroffene­n?

Vorsicht bei gewerblich­en Schuldnerb­eratern. Sie sollten, wenn möglich, zu einer öffentlich­en Schuldnerb­eratung gehen,. Einen für alle gültigen Tipp gibt es nicht. Jeder Fall liegt anders und bedarf einer individuel­len Beratung. Die einzige Empfehlung ist, möglichst schnell eine Beratung in Anspruch zu nehmen.

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FOTO: SINA SCHULDT/DPA Die Corona-Krise hat auf dem Arbeitsmar­kt deutliche Spuren hinterlass­en – und viele Menschen in Zahlungssc­hwierigkei­ten gestürzt.

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