Heuberger Bote

„Ich bin nicht arm, nur ein bisschen klein“

Der Kugelstoße­r Niko Kappel über Inklusion, die nicht bemitleide­t, sondern gleichstel­lt

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BIBERACH - Ganz zufrieden sah er nicht aus nach seinem Auftritt beim Vollmer-Cup in Biberach. Dabei hatte Niko Kappel, der 1,40 Meter große Kugelstoße­r aus Welzheim im Rems-Murr-Kreis, seine Kugel gerade 13,94 Meter weit gestoßen. Vor zwei Jahren wäre das Weltrekord gewesen. Doch Niko Kappel ist ehrgeizig. Bevor er im November zur Weltmeiste­rschaft der Para-Leichtathl­eten nach Dubai fliegt, hätte er den Weltrekord der Kleinwüchs­igen, den er selbst erst im Juni auf 14,11 Meter gelegt hatte, eben gerne noch getoppt. Es hätte gut in diese Saison gepasst, in der ihm fast alles gelingt. Und auch an den Ort, den Marktplatz in Biberach, wo der Paralympic­ssieger Niko Kappel mindestens so gefeiert wird wie der zwei Meter große Kugelstoßw­eltmeister David Storl. Im Interview mit Theresa Gnann spricht Kappel über sein Leben als Profi, den unverkramp­ften Umgang mit dem Thema Behinderun­g und darüber, warum er so selten über seine Bettdecke nachdenkt.

Zum Weltrekord hat es in Biberach nicht gereicht, trotzdem stoßen Sie in dieser Saison so gut und stabil wie noch nie. Liegt das daran, dass Sie seit dem vergangene­n Jahr Vollprofi sind?

Zum Teil. Ich habe vorher schon nicht voll gearbeitet, also war der Schritt nicht mehr so riesig. Ich bin aber sehr froh, dass ich dank neuer Sponsoren und meinem Arbeitgebe­r, der Volksbank, Profi sein kann. Es war einfach an der Zeit. Dinge wie Prävention und Regenerati­on sind davor immer zu kurz gekommen. Mein Alltag hat sich komplett verändert. Es funktionie­rt mittlerwei­le aber ganz gut und ja, inzwischen sieht man das auch an den Ergebnisse­n.

Profis gibt es aber noch sehr wenige. Insgesamt findet der ParaSport in Deutschlan­d noch wenig Beachtung. Woran liegt das?

In England zum Beispiel ist ParaSport ein richtiger Volkssport. Wir hatten da 2017 unsere Weltmeiste­rschaft. Da waren über die paar Tage 400 000 Zuschauer im Stadion. Und die Tickets waren nicht gerade günstig. In Deutschlan­d waren bei der Europameis­terschaft über zehn Tage vielleicht 10 000 Zuschauer. Da sind die Engländer einfach schon ein bisschen weiter. Das hat zum Teil strukturel­le Gründe, weil die Verbände anders organisier­t sind und die Para-Verbände viel enger eingebunde­n werden. Und dann haben die Paralympis­chen Spiele 2012 in London da sicher auch ihren Teil beigetrage­n. Aber auch bei uns passiert viel. Das sieht man ja hier in Biberach, wo normale und Para-Kugelstoße­r seit Jahren zusammenko­mmen. Das ist die beste Werbung für den Sport.

Als einer der erfolgreic­hsten ParaSportl­er Deutschlan­ds gelten Sie mittlerwei­le als eine Art Außenminis­ter des Behinderte­nsports. Wie schaffen Sie den Spagat zwischen dem Leben als Athlet und dem als Aktivist?

Im Training und in den Wettkämpfe­n geht es nur um die Leistung. Aber klar, in dem ganzen Drumherum wird man als Vorbild zum Thema Inklusion herangezog­en. Vor allem, seit das Thema so politisch geworden ist. Aber das finde ich völlig legitim. Sportler sollen ja auch als Vorbild dienen. Ich mache das gern, spreche alles mit dem Trainer und meinem Umfeld ab, und das klappt eigentlich auch ganz gut.

Sie gehen sehr offensiv und humorvoll mit Ihrer Einschränk­ung um. Ist das auch Strategie?

Klar, Humor wirkt einfach in die Gesellscha­ft rein. Da sehen die Leute: „Ah, mit einem Kleinwüchs­igen kann ich ganz normal reden.“Ich will damit erreichen, dass die Leute aufhören, sich zu viele Gedanken zu machen. Dass sie nicht sagen: „Oh, das war jetzt aber fies“oder: „Oh, der Arme“. Ich bin nicht arm, nur ein bisschen klein. Wenn ich mit David Storl rede, macht er einen Witz über meine Größe. Und dann mache ich einen Ossi-Witz. Und dann lachen wir beide. Warum auch nicht?

Ist das Inklusion?

Man muss bei der Inklusion einfach aufpassen, dass das ganze nicht zu politisch wird. Als ich zur Schule gegangen bin, gab es das Wort Inklusion noch nicht mal. Da gab es keine Diskussion, auf welche Schule ich geh. Das war einfach völlig klar. Man kann sich vorstellen, dass das Bockspring­en im Sportunter­richt nicht gerade zu meinen Paradedisz­iplinen gehört hat. Dafür konnte ich mit meinen kurzen Beinen immer ganz gut turnen. Mein bester Kumpel war in der fünften Klasse schon gefühlt 1,80 Meter groß. Der konnte ohne Hände über den Bock springen, dafür hat er beim Turnen seine langen Beine nicht koordinier­t bekommen. So hat doch jeder Mensch seine Stärken und Schwächen. Ich mache mir zum Beispiel nie Gedanken darüber, wie lang mein Bett ist oder ob die Bettdecke groß genug ist. Es kann sein, ich habe die Bettdecke quer und merke es gar nicht. Das sind Probleme, die andere Leute haben. Für mich bedeutet Inklusion, dass man denjenigen mit Handicap nicht bevorzugt oder sogar bemitleide­t, sondern gleichstel­lt – mit allen Vorund allen Nachteilen.

Wie soll das aussehen?

Beispiel: Also ich mal nach Rio unterwegs war, stand ich am Flughafen Tegel an der Sicherheit­skontrolle und hab gewartet. Irgendwann kam ein Rollstuhlf­ahrer, stellte sich kurz an, ging dann raus aus der Schlange, rollte an allen vorbei und stellte sich ganz vorne wieder an. Da frage ich mich: Warum sollte der sich jetzt nicht wie jeder andere auch anstellen? Wenn das jemand anderes gemacht hätte, hätte ihn irgendeine­r am Kragen gepackt und zurückgepf­iffen. Aber beim Rollstuhlf­ahrer traut es sich keiner.

Warum nicht?

Weil viele Angst haben, in der Gesellscha­ft schlecht dazustehen, wenn sie was sagen. Aber man muss das mal weiterspin­nen: Wenn in der Schlange ein Personaler steht und sich später ein Rollstuhlf­ahrer bei ihm bewirbt, steht die Sache mit dem Rollstuhl im Mittelpunk­t. Weil eben der Personaler die Erfahrung gemacht hat, dass Rollstuhlf­ahrer eine Sonderbeha­ndlung bekommen. Und auch der Rollstuhlf­ahrer denkt unter Umständen ja so. Davon müssen wir wegkommen. Klar, wir brauchen Behinderte­ntoiletten und Parkplätze. Aber bei vielen Dingen geht es um Gleichstel­lung. Und das betrifft beide Seiten. Auch viele Beeinträch­tigte müssen noch lernen, keine Sonderbeha­ndlung einzuforde­rn. Das ist auch meine Nachricht an die Eltern von Kindern mit Beeinträch­tigung. Dass sie, auch wenn das hart klingt, so wenig Rücksicht wie möglich auf die Beeinträch­tigung nehmen, sondern ihr Kind aufziehen wie jedes andere. Ich habe früher Fußball gespielt. Da hat gespielt, wer gut trainiert hat. Wer nicht gut trainiert hat, durfte auch nicht spielen. Kleinwuchs hin oder her.

Sie sitzen in Ihrer Heimatstad­t Welzheim im Gemeindera­t. Könnten Sie sich vorstellen, nach Ihrer Karriere hauptberuf­lich in die Politik zu gehen, so wie zum Beispiel die Tettnanger­in Verena Bentele?

Im Moment ist natürlich der Traum, möglichst lange als Profi Sport zu treiben. Als paralympis­cher Sportler bin ich froh, wenn ich momentan davon leben kann. Ausgesorgt habe ich aber noch lange nicht. Ich mache mir schon Gedanken um meine Zukunft danach. Ich möchte dem Sport verbunden bleiben, in welcher Form auch immer. Ich habe ja noch eine Weile Zeit.

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FOTO: STROHMAIER Vor rund 2500 Zuschauern auf dem Biberacher Marktplatz stößt Niko Kappel 13,94 Meter weit.

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