Akustisches Denkmal mit Gschmäckle
Eine Glocke aus der Zeit des Nationalsozialismus soll auch in Zukunft im pfälzischen Herxheim am Berg erklingen – Zentralrat der Juden kritisiert „tiefe Respektlosigkeit“
(dpa/sz) - Eng ist es im Saal des Gemeinschaftshauses. Nicht nur das Medieninteresse ist groß, auch rund 70 der rund 700 Dorfbewohner haben Platz genommen, um die Sitzung des Gemeinderats am Montagabend zu verfolgen. Einige von ihnen applaudieren, als das Abstimmungsergebnis verkündet wird: Die umstrittene „Hitler-Glocke“, die das Dorf in der Pfalz im vergangenen Jahr bundesweit in die Schlagzeilen gebracht hat, soll auch in Zukunft im Kirchturm erklingen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland reagiert fassungslos.
„Die Gemeinde hat es nötig, dass wir Klarheit bekommen, in welche Richtung wir gehen wollen“, sagt Ortsbürgermeister Georg Welker (parteilos) zu Beginn der Sitzung. Die 240 Kilogramm schwere Glocke mit einem Hakenkreuz und der Inschrift „Alles für’s Vaterland“und darunter „Adolf Hitler“gehört seit 1934 zum dreistimmigen Geläut der protestantischen Jakobskirche.
Sie hatte über die Grenzen der kleinen Gemeinde hinaus für Aufsehen gesorgt. Der frühere Ortsbürgermeister Ronald Becker musste im September zurücktreten, nachdem er in einem Fernsehinterview des ARD-Magazins Kontraste gesagt hatte, die Gemeinde sei stolz auf die Glocke. Becker, damals Mitglied der Freien Wähler, hatte sich in relativierende Aussagen über Hitler und das Naziregime verstiegen.
Bürgermeister vergaloppiert sich
Hitler werde immer nur mit Gräueltaten in Verbindung gebracht, nicht jedoch mit den Sachen, die in dieser Zeit auf den Weg gebracht worden seien und bis heute genutzt würden. „Wenn man über solche Sachen berichtet, soll man umfangreich berichten“, gab Becker zu Protokoll. Der Digitalversion der „Frankfurter Rundschau“sagte Becker damals, er habe gegenüber der „Kontraste“Mitarbeiterin erklärt, dass eine alte Frau aus dem Ort ihm gegenüber diese Aussage getätigt habe. Seine Aussage sei ein Zitat gewesen und nicht seine eigene Meinung. Vielleicht sei er im Umgang mit Medienvertretern zu unvorsichtig gewesen.
Die Glocke wurde zunächst stillgelegt. Die Evangelische Kirche der Pfalz bot an, die Kosten für die Demontage der alten und die Anschaffung einer neuen Glocke zu übernehmen. Nach einem Gutachten der Glockensachverständigen Birgit Müller würde ein Austausch insgesamt 50 500 Euro kosten. Das Gutachten hatte der Gemeinderat im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben – am Montagabend stellt Bürgermeister Welker die wichtigsten Aussagen vor: Die Glocke sei ein „akustisches Denkmal“, heißt es im Gutachten. „Eine Entsorgung dieser Glocke in ein Depot eines Museumskellers – nur für etwaige Sonderausstellungen hervorzuholen –, ist eine Flucht vor einer angemessenen und aufgeklärten Erinnerungskultur“, schreibt die Sachverständige. Der Bürgermeister empfiehlt dem Gemeinderat daher, die Glocke im Turm zu lassen. Sie sei ein „Anstoß zur Versöhnung und Mahnmal gegen Gewalt und Unrecht“, sagt er.
Die Gemeinderäte und der Bürgermeister stimmen geheim ab. Der Vorschlag des Bürgermeisters erhält zehn Stimmen, drei sind dagegen. Damit bleibt die Glocke im Turm. In Zukunft soll sie wieder in Betrieb genommen werden, an der Kirche soll eine Mahntafel auf die Geschichte des Geläuts hinweisen. Die Gemeinde will zudem jährlich zu Veranstaltungen einladen, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen.
Auch Roswitha Kaiser, die Leiterin der rheinland-pfälzischen Landesdenkmalpflege, hat sich für den Erhalt der Glocke ausgesprochen. „Sie stammt aus einer renommierten Gießerei. Und die Qualität der Glocke ist so gut, dass man von einem Klangdokument sprechen kann“, erklärt die Landeskonservatorin am Dienstag. „Zudem ist sie Teil einer Erinnerungskultur, der wir uns nicht entziehen können.“Das sieht der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ganz anders. „Die Entscheidung des Gemeinderats von Herxheim macht mich fassungslos. Sie zeugt von einer tiefen Respektlosigkeit vor allen Opfern des Nationalsozialismus“, sagte Schuster. „Wie eine Kirchenglocke, die einem der größten Menschheitsverbrecher der Geschichte gewidmet ist, mit dem Christentum vereinbar sein soll, ist mir ein Rätsel.“
Die ARD-Tagesthemen enttarnten am Montagabend dann noch ein weiteres Hakenkreuz – ganz oben an der Außenfassade des Kirchturms.