Zu klug für diese Welt
Welches ist der richtige Weg, wenn die Gehirne begabter Kinder über ihre kleinen Körper hinauswachsen?
Spätestens, als Elisa auf dem Schulhof schließlich ganz allein ist, einsam ihr Käsebrot kauend, und die anderen nur noch mit dem Finger auf sie zeigen und Grimassen schneiden, da weiß sie: „Mit mir stimmt was nicht.“Von ihrer Mama hatte die damals Achtjährige das schon öfter gehört, dass Kinder sehr, sehr grausam sein können. Aber dass es so wehtun würde, wenn die anderen Schüler aus ihrer Klasse, in der sie nur ist, weil sie die zweite übersprungen hat, die Köpfe zusammenstecken und tuscheln, wenn sie vorbeigeht, wusste sie nicht. Einmal spuckt der Klassenkasper sie sogar an. Erst da war Elisa endlich klar, was die Mama gemeint hatte.
Und so musste das kleine Mädchen mit den dicken Haaren schon sehr früh erfahren, wie sich Einsamkeit anfühlt, wenn man mitten unter vielen Menschen ist, die sich so verhalten, als sei man Luft, als könnten sie durch einen hindurchgehen wie durch einen Nebel. Aber natürlich ist Elisa ein Mensch aus Fleisch und Blut, den jede Demütigung schmerzt. Und warum das alles? Weil Elisas Intelligenz dafür sorgt, dass sie manchmal komische Sachen sagt. Weil die anderen dem intellektuellen Takt eines IQ von über 140 nicht zu folgen vermögen. Weil ihr Potenzial eine Distanz zu den „Normalen“schafft, die auch der klügste Kopf im Kindesalter nicht ohne Hilfe überbrücken kann. Heute ist Elisa, die in Wirklichkeit wie die meisten Menschen in diesem Text anders heißt, 17 Jahre alt. Die widerspenstigen Locken toben immer noch bei jeder Bewegung auf ihrem Kopf. „Aber sonst hat sich – Gott sei Dank – vieles geändert.“Wie es dazu kam, dazu später mehr.
Überflieger und Superkind
Das Phänomen der Hochbegabung wird inzwischen immer öfter erkannt, sodass verantwortungsvolle Lehrer und sensible Eltern früh darauf reagieren können. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass es Müttern und Vätern in jedem Fall leichtfällt, die richtige Entscheidung zu treffen: „Wenn ich mein Kind eine Klasse überspringen lasse, wenn es also zu den Größeren kommt, ist sie dann nicht automatisch der Außenseiter?“, hat sich auch Tine gefragt, als es darum ging, das Beste für ihre neunjährige Tochter Julia zu entscheiden, aber: „In der alten Klasse war es auch nicht einfach.“Denn Julia ist nicht nur besonders intelligent, sie ist auch – zumindest nach außen hin – mit viel Selbstbewusstsein gesegnet, sodass sie mit ihren Talenten nicht hinter dem Berg hält. Und weil der schmächtige Körper so viel Geist mitunter gar nicht zu ertragen scheint, muss Julia manchmal den Besserwisser raushängen lassen. Den Alleskönner. Den Überflieger. Das Superkind.
In solchen Momenten rollen die anderen Schüler mit den Augen. Und oft genug wenden sie sich dann ab und lassen Julia allein mit ihrem unverschämt hohen IQ von 142, der sie zwar alles Mögliche wissen, aber noch lange nicht alles verstehen lässt. Julias Mutter Tine scheint sich fast dafür entschuldigen zu wollen, dass ihr Kind mehr und schneller begreift, was ihre Altersgenossen oft so mühsam einpauken müssen. Dabei hat Hochbegabung in erster Linie positive Seiten. Im Fall von Julia äußern sie sich in Neugierde, Verständnis und einem gewitzten Humor, der manchmal trocken und bisweilen ein wenig altklug daherkommt. Abgesehen von Lerntempo und Auffassungsgabe sind Hochbegabte, wie Psychologen in verschiedenen Studien festgestellt haben, oft auch hochsensibel. Sie nehmen also zwischenmenschliche Schwingungen wahr, die anderen verborgen bleiben. „Diese sensible Seite bekommt man in der Schule natürlich nicht so einfach mit“, sagt Tine und weiß, dass ihr Kind nach Orientierung und Halt sucht, den sie zum Beispiel in geregelten Abläufen findet. Und: Hochsensibel heißt eben auch verletzlich.
Obwohl das zierliche Mädchen immer Teil der Klasse war und sie ihr Anderssein nie nachhaltig zur Außenseiterin gemacht hat, saß sie während des Unterrichts meistens da und langweilte sich, während der Rest der Klasse sich über Aufgaben anstrengte, die Julia schon fertig hatte, bevor die Letzten die Frage überhaupt erst zu Ende gelesen hatten. Und was macht ein Kind, zu dessen Stärken die Geduld nicht zählt, wenn der Schultag sich ins Endlose dehnt, weil die Aufgaben schon fertig sind, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben? Entweder es langweilt sich still und leise, zieht sich in sich zurück. Oder es lässt sein Umfeld wissen, dass es unter der Unterforderung leidet.
An einem Wirtshaustisch, irgendwo in Oberschwaben, sitzt Claudia, die in Wirklichkeit auch einen anderen Namen trägt. Ist es eine Schande, sehr intelligent zu sein, sodass man anonym bleiben muss? Claudia versucht ein Lächeln und sagt: „Meine Eltern hatten keine Ahnung, wie sie damit umgehen müssen.“Vor fast 40 Jahren, in der Kindheit von Claudia, standen Schule und Gesellschaft dem Phänomen Hochbegabung mit leeren Händen gegenüber. Kinder wie Claudia, die in der Schulzeit vergeblich mit allen Mitteln um Anschluss und Anerkennung gekämpft hat, waren dem Unverständnis ihrer Umgebung – auch der Lehrer – ausgeliefert. In ihrem speziellen Fall hat auch die Familie kaum Halt geboten. „Meine Mutter hat vieles versucht, war aber im Prinzip komplett mit mir überfordert.“
Im Ergebnis wächst das Kind ohne eine klare Linie auf, sodass lang nicht deutlich wird, wer hier eigentlich wen erzieht. Der Vater, von dem sie die hohe Intelligenz wahrscheinlich geerbt hat, ist kaum präsent, während Claudia die Mutter schon vor der Einschulung mit ihrer geistigen Überlegenheit einzuwickeln versteht.
Auf Durchzug geschaltet
Die Jahre in der Grundschule waren noch erträglich, das frühe Gymnasium wird zunehmend schwierig. Bringt Claudia die von der Mutter wie selbstverständlich erwarteten Einsen nach Hause, wird das ohne Weiteres zur Kenntnis genommen. Sind die Zensuren aber schlecht, weil das kleine Mädchen sein Gehirn aufgrund der permanenten Unterforderung schließlich auf Durchzug schaltet, sich sogar „absichtlich doofer stellt, um normaler zu sein“und dann gar nichts mehr mitbekommt, macht ihr die Mutter zu Hause die Hölle heiß. Und weil sie das Gefühl hat, sich auf niemanden verlassen zu können, hat sie schließlich angefangen, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen. „Meine Rettung waren die kirchlichen Jugendgruppen“, sagt die inzwischen stabil im Leben stehende Hochbegabte, die über viele Jahre hinweg nur mit therapeutischer Hilfe in einer Welt überlebt hat, die einen vollkommen anderen Rhythmus vorgibt. In den Jugendgruppen fühlt sie sich angenommen und darf bald selbst Verantwortung als Leiterin übernehmen. „Dabei habe ich zum ersten Mal erfahren, wie es ist, irgendwo wirklich dazuzugehören.“Dass ihr dabei ausgerechnet eine Kirche half, obwohl sie schon damals an keinen katholischen Gott geglaubt habe, erzählt sie heute noch mit Erstaunen, vor allem aber Dankbarkeit.
Bei Elisa war es schließlich der Direktor an der Grundschule, der gespürt hat, wie sehr sie leidet. Und dass es manchmal eben nicht damit getan ist, eine Klasse zu überspringen. Nach einer gezielten Fortbildung der Lehrerin, ging Elisa zurück in ihre alte Klasse und durfte dort – parallel zum Unterricht der „Normalen“Aufgabengebiete vertiefen. „Es ist ja nicht so, dass es für solche Fälle nicht geeigneten Stoff gibt“, sagt Elisa. Darüber hinaus habe sie gelernt, sich auf soziale Augenhöhe zu begeben, auch wenn das erst mit therapeutischer Hilfe richtig geklappt hat. Übersprungen hat sie Klassenstufen erst später, sodass sie mit 16 schon ihr Abitur erreicht hat.
Wie es der kleinen Julia nach dem Überspringen in der neuen Klasse langfristig gehen wird, weiß ihre Mutter noch nicht. Die Eindrücke sind noch zu frisch, um ein endgültiges Urteil fällen zu können. An eines erinnert sich Tine aber noch aus einem Beratungsgespräch, als die Expertin meinte: „Wer sagt Ihnen denn, dass es besser ist, es nicht zu tun?“Julia jedenfalls fühle sich fürs Erste wohler in der neuen Situation. Habe ein großes Stück vom alten Frust, von der Langeweile, hinter sich lassen können. Und ihre Mutter Tine ist froh, dass Eltern heute mehr Möglichkeiten der Beratung und Hilfen haben. Sodass ihr Kind nicht die gleichen leidvollen Erfahrungen machen muss wie Claudia. Oder Elisa, die die Demütigungen von damals und den Trottel von Klassenkasper vielleicht schon vergessen hätte, wenn ihr Geist denn normal arbeiten würde. Aber genauso wie ein Gehirn von solcher Intelligenz Dinge schneller erfasst, lässt es andere Dinge weniger schnell los. Und manches bleibt für immer.