Heidenheimer Zeitung

„Gegen Darmkrebs gibt es keinen Impfstoff“

Darmkrebs ist tückisch, kann aber bei rechtzeiti­gem Erkennen geheilt werden. Hat die Pandemie zu viele Gesundheit­schecks verhindert? Zwei Heidenheim­er Experten klären auf.

- Von Karin Fuchs

War es die Angst vor Corona oder fehlten im Lockdown die Untersuchu­ngstermine? Das ist unklar, sicher ist jedoch: Einige Darmkrebs-patienten hätten bei rechtzeiti­ger Untersuchu­ng eine andere, weitaus harmlosere Krankenges­chichte gehabt.

Das erzählt Prof. Dr. Andreas Imdahl, Ärztlicher Direktor am Klinikum Heidenheim, und reiht sich damit ein in die bundesweit­e Darmkrebs-vorsorgeka­mpagne, die jedes Jahr im März stattfinde­t. Gemeinsam mit Dr. Norbert Jung, Koordinato­r des Darmkrebsz­entrums Heidenheim im Klinikum, wirbt er deshalb nicht nur für eine rechtzeiti­ge Darmspiege­lung, um Krebs schon im Vorstadium zu erkennen, sondern gibt auch Tipps, wie man sein Darmkrebs-risiko verringern kann und welche Symptome man ernst nehmen muss.

Wie hat sich die Corona-pandemie auf die Vorsorgebe­reitschaft ausgewirkt? Dr. Norbert Jung:

Corona hat mächtig in die Vorsorge reingegrät­scht. Während der ersten Welle wurden die Vorsorgeun­tersuchung­en von März bis April in allen Bereichen, auch bei Hautkrebs oder Mammografi­e, fast auf Eis gelegt. Überrasche­nderweise war bis Ende des zweiten Quartals dieser Rückgang schon wieder aufgeholt. Im Gegenteil: Im ersten Halbjahr 2020 gab es 8000 Vorsorgeun­tersuchung­en mehr als im Jahr zuvor und auch im gesamten Jahr gab es keinen Rückgang. Und das bei einer Gesamtanza­hl von etwa einer halben Million Vorsorge-darmspiege­lungen jährlich in Deutschlan­d.

Das ist erstaunlic­h, gibt es eine Erklärung für die hohe Vorsorgebe­reitschaft.

Jung:

Das hängt damit zusammen, dass im Juli 2019 in Deutschlan­d das bevölkerun­gsbasierte Einladungs­verfahren initiiert wurde. Seither erhält jeder erstmalig mit dem 50. Lebensjahr einen Brief, in dem er aufgeforde­rt wird, zur Vorsorge zu gehen. Man geht davon aus, dass diese Einladung zu einer Steigerung der Vorsorge von 20 Prozent führen wird. Das haben wir jedoch voriges Jahr nicht erreicht. Der Effekt der Corona-pandemie ist bemerkbar, aber nicht so drastisch wie befürchtet. Daran sieht man, wie gut die Darmkrebsv­orsorge in Deutschlan­d etabliert ist und wie schnell sich die Praxen auf die Pandemie-bedingunge­n einstellen konnten.

Blicken wir aufs Klinikum Heidenheim, wurden auch bei Ihnen weniger Vorsorge-untersuchu­ngen wahrgenomm­en?

Jung:

Bei uns war es ähnlich. Wir haben im März auf Notfallbet­rieb umgestellt, das heißt, es gab keine elektiven, also geplanten Untersuchu­ngen mehr. Dazu kam, dass wir Personal für den Covid-bereich abstellen mussten. In der Endoskopie sind wir mittlerwei­le aber wieder auf Normalbetr­ieb.

Prof. Dr. Andreas Imdahl: Die Auswirkung­en der aufgeschob­enen Endoskopie­n haben wir in der Chirurgie durchaus bemerkt. In der ersten Welle hatten wir zum Beispiel drei Patienten, die nicht zur Spiegelung gegangen sind, die deshalb aber eindeutig zu spät zur Operation kamen. Der Darm war schon geplatzt. Das hätte man viel früher entdecken müssen, um diese Patienten zu retten. Ich kann jedoch nicht sagen, ob sie aus Angst vor Ansteckung keine Spiegelung machen ließen oder ob sie in den Arztpraxen aufgrund von Corona keinen Termin bekommen haben.

Hatten Sie denn mehr schwere Fälle begründet durch die Corona-pandemie?

Imdahl:

Das ist schwer zu sagen. Aber ich nennen Ihnen ein weiteres Beispiel, das ein Hinweis sein kann, dass die Pandemie durchaus einen Einfluss hat. Ich operiere demnächst einen Patienten, der seit September Beschwerde­n hat. Jetzt haben wir März, dementspre­chend fortgeschr­itten ist der

Krebs mittlerwei­le. Es wäre sehr viel besser gewesen, wir hätten uns schon im Oktober um den Patienten kümmern können, dann wäre alles viel einfacher gewesen. Das ist in meinen Augen ein Ausdruck dessen, dass die Pandemie zu gewissen Verzögerun­gen führt.

Ihr Appell ist deshalb: Sobald erste Anzeichen vorhanden sind, ohne Verzögerun­g zur Darmspiege­lung anmelden?

Imdahl:

Um die Dringlichk­eit zu unterstrei­chen: Gegen die Covid-pandemie gibt es inzwischen eine Impfung, gegen Darmkrebs nicht. Darum geht es eigentlich.

zur den gesunkenen Darmkrebs-eingriffen

Müssen die Menschen Angst haben, sich bei der Spiegelung mit dem Virus zu infizieren? Gab es Fälle?

Jung:

Mir ist aus unserer Klinik kein Fall bekannt, dass sich jemand bei der Endoskopie angesteckt hätte. Auch deutschlan­dweit gibt es meines Wissens keine Fälle. Wir Mediziner haben uns auf das Risiko eingestell­t und haben Schutzmaßn­ahmen getroffen.

Wie schützen Sie die Patienten beim Eingriff vor einer Virus-infektion? Jung:

In den Praxen werden die Termine so abgestimmt, dass sich die Patienten nicht oder wenig über den Weg laufen. Manche Praxen mussten tagsüber ihre Öffnungsze­iten verlängern. Die Mitarbeite­r tragen bei der Endoskopie Schutzausr­üstung wie Ffp2maske, wasserabwe­isende Schutzkitt­el, Handschuhe, Schutzbril­le. Wir am Klinikum machen seit der zweiten Welle zudem nur noch eine Endoskopie, wenn der Patient einen negativen Covid-test hat. Und wir lassen keine Begleitper­sonen mehr zu, um die Kontakte zu reduzieren.

Imdahl: Am Klinikum werden auf freiwillig­er Basis, aber sehr erfolgreic­h, zweimal pro Woche die Mitarbeite­r getestet. Wir verbrauche­n pro Woche dafür knapp 1000 Teste nur für das Personal. Ich habe mich im April letzten Jahres selbst in einer Praxis spiegeln lassen und bin dabei nur einem einzigen Patienten begegnet. Ich habe mich sehr sicher gefühlt. Man spricht zwar mit dem Untersuche­r, aber der untersucht ja von hinten. Also die Gefahr, dass das Aerosol den Patienten erreicht, ist äußerst gering.

Reicht es denn nicht, in dieser Pandemie-situation auf Spiegelung­en zu verzichten und einfach eine Stuhlprobe abzugeben?

Jung:

Wenn wir über Darmspiege­lung sprechen, müssen wir drei Gruppen unterschei­den. Einmal die reine Vorsorge, Männer haben aufgrund ihres höheren Risikos Anspruch auf eine Vorsorgeda­rmspiegelu­ng ab dem 50., Frauen ab dem 55. Lebensjahr. Einmal jährlich kann man zudem einen Stuhltest abgeben. In der reinen Vorsorge kommt es nicht darauf an, ob sie mit 50 oder 51 zur Darmspiege­lung gehen, vorausgese­tzt sie machen den Stuhltest.

Zur zweiten Gruppe: Bei etwa sieben Prozent ist dieser Stuhltest auffällig. Diese Patienten sollten zeitnah, innerhalb von drei Monaten einen Termin bekommen zur Darmspiege­lung. Und die dritte Gruppe sind Menschen, die schon Beschwerde­n haben.

Bei welchen Beschwerde­n sollte man hellhörig werden?

Jung:

Wenn Blut im Stuhl ist, der Bauch weh tut oder sich aufbläht, oder die Verdauung nicht mehr normal funktionie­rt oder die Stuhlgang-gewohnheit­en sich verändern, dann ist innerhalb wenigen Wochen eine Darmspiege­lung angeraten. Und die sollte nicht aus Angst vor Covid oder aus Scham verzögert werden. Denn sonst kommt es zu solchen Situatione­n, wie vorher von Professor Imdahl beschriebe­n.

Was macht es so gefährlich, Darmkrebs zu spät zu erkennen?

Imdahl: Bei Darmkrebs gibt es zwei Gefahren. Die erste ist, dass der Krebs zu einem Darmversch­luss führt, der mit dem Leben nicht vereinbar ist. Wenn es ganz schlecht läuft, platzt der Darm sogar. Das führt zu einer Bauchfelle­ntzündung mit einer Sepsis und drohendem Tod. Die zweite Gefahr ist, dass der Darmkrebs streuen kann. Es können Metastasen entstehen, also Tochterges­chwülste in Leber, Lungen und anderen Organen. Je länger man wartet, desto größer ist die Gefahr, dass der Krebs streuen kann.

Gibt es eine Regel, wie lange die Entwicklun­g dauert vom ersten Polypen bis zum Krebs?

Imdahl:

Natürlich gibt es eine Vorstellun­g, wie diese Entwicklun­g abläuft. Aber es gibt keine glasklare Regel. Sie können nicht sagen, innerhalb eines halben Jahres wird aus dem Polypen Krebs, das ist individuel­l verschiede­n.

Wenn ich dieses Jahr bei der Vorsorge war, wie lange habe ich dann Ruhe? Jung:

Jeder Bürger bekommt ab 50 zwei kostenlose Vorsorge-darmspiege­lungen bezahlt, die im Abstand von zehn Jahren stattfinde­n. Ausnahme: Wenn bei der ersten

Spiegelung relevante Polypen entdeckt wurden, dann wird die nächste Darmspiege­lung nach Entscheidu­ng des Facharztes vorgezogen. Jede weitere Darmspiege­lung ist in diesen Fällen auch wieder kostenlos.

Imdahl: Wenn Sie das sich auf der Zunge zergehen lassen. Zwei Vorsorge-untersuchu­ngen in zehn Jahren. Die erste mit 50, die zweite mit 60. Danach haben Sie keinen Anspruch mehr. Das müsste man eigentlich politisch bewerten: Warum soll ein 70-Jähriger keine Vorsorge-untersuchu­ng mehr machen, wenn wir doch wissen, dass die Menschen durchaus über 95 Jahre alt werden.

Jung: Es gibt eine Untersuchu­ng vom letzten Jahr bei Männern. Wenn sie beide Untersuchu­ngen wahrnehmen, dann senken sie ihr Risiko, an Darmkrebs zu sterben, von normalerwe­ise 2,6 auf 0,1 Prozent. Das müssen wir hinkommen in Deutschlan­d. Aber so weit sind wir leider noch nicht. Im Moment bekommt jeder zweite über 50-jährige Mann in Deutschlan­d eine Darmspiege­lung.

Sie sind am Klinikum Heidenheim, zertifizie­rtes Darmkrebs-zentrum. Das muss dann eine besondere Qualität haben, oder?

Imdahl:

Woran misst man Güte? Da kann man verschiede­ne Kriterien heranziehe­n. Ein wichtiges Kriterium der operativen Medizin ist der Nahtbruch, die sogenannte Anastomose­ninsuffizi­enz. Wir haben zwei Jahre lang bei Darmeingri­ffen eine Insuffizie­nzrate von null Prozent gehabt. Also keiner hat einen Nahtriss bekommen. Das ist Glück, man sollte auf jeden Fall unter sechs Prozent liegen.

Wie viele Operatione­n nehmen Sie im Jahr vor?

Imdahl:

Als zertifizie­rtes Darmkrebs-zentrum müssen wir eine bestimmt Anzahl an Operatione­n machen, die liegt im Klinikum Heidenheim bei 60. Allerdings war es im letzten Jahr etwas weniger. Ich bin mir nicht sicher, welche Rolle die Pandemie spielt, aber in ganz Deutschlan­d hatten wir einen Einbruch bei den Operations­zahlen um 20 Prozent. Man glaubt ja nicht ernsthaft, dass Darmkrebs wegen des Virus um 20 Prozent abgenommen hat. Das ist Unsinn.

Wenn der Darmkrebs entstanden ist, wie gut sind die Behandlung­smöglichke­iten?

Imdahl:

Das darf man nicht zu schwarzmal­en. Wir können mindestens zwei Drittel der Darmkrebs-patienten durch Operatione­n und andere Maßnahmen heilen.

Wie läuft denn so eine Operation ab? Imdahl:

Wir stellen zuerst fest, wie der Tumor lokal ausgebreit­et ist, ob und wie sehr er im Körper gestreut hat. Dazu gibt es eine Reihe von bildgebend­en Untersuchu­ngen, wir nennen das Staging. Bei einem normalen Dickdarmtu­mor wird der entscheide­nde Anteil des Dickdarms inklusive der Lymphknote­n entfernt. Ob die Lymphknote­n befallen sind, sieht man bei der Operation nicht, sondern das erkennt danach der Pathologe. Wenn die Lymphknote­n

Tumorzelle­n haben, werden wir uns zu einer Chemothera­pie entscheide­n, um das Maß an Sicherheit zu erhöhen. Es gibt den seltenen Fall, dass der Tumor ungünstig am Mastdarm gelegen ist, sodass der Mensch einen künstliche­n Ausgang braucht, manchmal nur zeitlich befristet.

Wie lange dauert es vom Eingriff bis zur Heilung?

Imdahl:

Sind die Patienten fit, sind sie in fünf bis sechs Tagen wieder zu Hause. Sind die Lymphknote­n nicht befallen, ist die Behandlung beendet, abgesehen vom Anspruch auf eine Reha. Im anderen Fall braucht es eine Chemotherp­ie, und die dauert mindestens drei Monate. Weil Tumore wiederkomm­en können, wird nachgesorg­t. Die ersten zwei Jahre werden die Patienten halbjährli­ch untersucht, danach jährlich. Insgesamt dauert die Nachsorge fünf Jahre.

zum Schutz vor Corona

Was kann ich selbst tun, um Darmkrebs zu vermeiden? Oder ist das Risiko vorgegeben?

Jung:

Ein Drittel des Risikos kann man selbst beeinfluss­en durch eine gesunde Lebensweis­e: nicht rauchen, moderater Alkoholkon­sum, ausreichen­d Ballaststo­ffe zu sich nehmen, weniger Fleisch, vor allem rote Fleischsor­ten, regelmäßig­e Bewegung, Übergewich­t vermeiden.

Das Schöne ist: Wenn ich das alles beherzige, minimiere ich auch das Risiko für andere Krebserkra­nkungen, aber auch für Schlaganfa­ll. Zwei Drittel des Risikos entscheide­n andere Faktoren. Zum Beispiel: Fünf Prozent der Darmkrebsf­älle sind genetisch bedingt, in 20 Prozent gibt es eine familiäre Häufung. Das Risiko kann man selbst nicht verändern, aber genau deshalb heißt ja auch, dass Sie konsequent zur Vorsorge gehen müssen. Bei fast keiner anderen Krebserkra­nkung ist es möglich, das Risiko fast auf null zu senken.

Gibt es einen erwiesenen positiven Effekt durch die Vorsorge?

Jung:

Wir haben in Deutschlan­d durch das Vorsorgepr­ogramm, das es seit 2003 gibt, sowohl das Darmkrebsr­isiko als auch die Sterblichk­eit um 30 Prozent reduziert. Zum Vergleich: Niederland­e oder Norwegen haben keine staatlich organisier­te Vorsorge. Dort ist die Häufigkeit und Sterblichk­eit nicht zurückgega­ngen, im Gegenteil, sogar angestiege­n.

Imdahl: Wie die Verbesseru­ng gelingt, ist ganz einfach zu erklären: Weil wir während der Endoskopie die Vorstufen des Krebs, nämlich die Polypen, entfernen können. Aus diesen Polypen wird nie wieder Krebs.

In ganz Deutschlan­d hatten wir einen Einbruch bei den Operations­zahlen um 20 Prozent.

Prof. Dr. Andreas Imdahl

Mir ist kein Fall bekannt, dass sich jemand bei der Endoskopie angesteckt hätte.

Dr. Norbert Jung

 ?? Foto: Archiv/christian Thumm ?? Chefarzt Prof. Dr. Andreas Imdahl (links) und Oberarzt Dr. Norbert Jung wollen die Menschen aufrütteln, zur Darmkrebs-vorsorge zu gehen.
Foto: Archiv/christian Thumm Chefarzt Prof. Dr. Andreas Imdahl (links) und Oberarzt Dr. Norbert Jung wollen die Menschen aufrütteln, zur Darmkrebs-vorsorge zu gehen.

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