„Man kann nicht von einem Alleingang reden“
Der Bundestag habe der Exekutive einen engen Rahmen zur Bekämpfung der Pandemie gesetzt, sagt die Bundesjustizministerin. Ein Gespräch über die hohe Bedeutung des Datenschutzes, Wasserwerfer bei Demonstrationen und das perfekte Weihnachtsrezept.
Das Gespräch findet einen Tag vor dem „harten Lockdown“statt. An einigen Geschäften in der Berliner Friedrichstraße haben sich Schlangen gebildet. In der Mohrenstraße dagegen wird die Zeit der Stille vorweggenommen, das Justizministerium wirkt ziemlich verwaist. Im Vorzimmer der Ministerin sitzen Mitarbeiterinnen in so etwas wie Glaskäfigen. Der Raum, in dem wir das Interview führen, wird von einem ovalen Holztisch dominiert. Er ist groß genug, dass alle Beteiligten auch ohne Maske miteinander reden können. Christine Lambrecht wirkt entspannt und konzentriert zugleich. Letzteres vor allem, wenn es um das Thema Corona geht. Die Grundrechtseinschränkungen, das merkt man ihr an, gehen ihr nahe. Aber sie verteidigt sie.
Frau Ministerin, seit Monaten wird mit Verordnungen regiert. Die Parlamente scheinen weitgehend außen vor zu sein. Sie sind langjährige Parlamentarierin. Blutet Ihnen nicht das Herz?
Ihre Beschreibung vermittelt einen falschen Eindruck. Die getroffenen Entscheidungen beruhen auf einem Gesetz, nämlich auf dem Infektionsschutzgesetz. Das hat der Bundestag beschlossen. Das Gesetz wurde gerade noch einmal nachgeschärft und berücksichtigt die Erfahrungen aus den vergangenen Monaten. Die zulässigen Schutzmaßnahmen und deren Voraussetzungen wurden konkreter benannt. Es wurde präzisiert, wer wofür zuständig ist und was die Exekutive darf beziehungsweise nicht darf. Auch die Landesparlamente werden einbezogen.
Ihre Partei, die SPD, wollte mehr, nämlich ein Vetorecht für den Bundestag. Durchgesetzt hat sich die SPD nicht.
Die neue Fassung des Infektionsschutzgesetzes sieht vor, dass die Bundesregierung dem Bundestag über die Entwicklung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Bericht erstatten muss. Und es werden ja auch weiterhin ganz konkrete Entscheidungen zur Bewältigung der Corona-pandemie im Bundestag gefällt. Zum Beispiel darüber, ob die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht verlängert wird.
Trotzdem sind viele Entscheidungen von der Exekutive im Alleingang getroffen worden.
Man kann hier nicht von einem Alleingang sprechen. Der Bundestag entscheidet, ob eine epidemische Lage von nationaler Tragweite vorliegt und ob deshalb gewisse Notmaßnahmen gerechtfertigt sind. Auch diese beruhen dann aber auf einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz. Auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes werden in diesem Fall Verordnungen erlassen, die befristet sind und für die ein Rahmen abgesteckt wurde. Diesen Rahmen darf die Exekutive nicht überschreiten.
Nicht alles, was sich manche gewünscht haben, wurde ihnen gewährt. Im Frühjahr haben Sie sich gegen die Abfrage der Funkzellen gewehrt. Warum eigentlich?
Weil es hier um sensible, personenbezogene Daten geht und der Nutzen für die Pandemiebekämpfung zweifelhaft geblieben ist. Eine Funkzellenabfrage kann allenfalls ein ganz grobes Bild liefern. Was nutzt die Information, dass unten auf der Straße ein Infizierter läuft, während ich in der vierten Etage sitze? Die Corona-app macht das besser, denn sie erfasst Risiko-begegnungen.
Aber die App funktioniert höchstens bedingt.
Es ist insgesamt ein großer Erfolg, dass sich so viele die App heruntergeladen haben. Freiwillig. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die App auch funktioniert. Dass sich nach einem halben Jahr Verbesserungspotential zeigt, ist doch ganz normal. So stellen noch zu wenige Nutzer ein positives Testergebnis ein. Wenn es jetzt Möglichkeiten gibt, die Wirkung der App noch weiter zu verbessern und zugleich die hohe Akzeptanz zu erhalten, dann bin ich sehr dafür.
Wofür genau?
Zum Beispiel für ein Erinnerungstagebuch, in das man seine Kontakte eintragen soll. Damit könnten wir die Rückverfolgung von Infektionsketten vereinfachen.
Wäre es nicht auch hilfreich, wenn die Kontakte zu Infizierten automatisch an die Gesundheitsämter gemeldet würden?
Das wäre vielleicht praktisch, aber es wäre zugleich ein erheblicher Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung – in ein Grundrecht. Zudem lässt die derzeitige Funktionsweise der App dies nicht zu. Wir müssten dann eine ganz neue App aufsetzen – was viel Zeit kosten würde, die wir nicht haben. Und ob wir hierfür noch einmal eine so hohe Akzeptanz erreichen würden, kann niemand sagen.
Sogar die Grünen-parteichefin Annalena Baerbock ist dafür.
Ich bleibe bei dem Grundsatz der Freiwilligkeit – und damit verbunden hoher Akzeptanz.
Ist es nicht ein Widerspruch, auf der einen Seite die Wirtschaft herunterzufahren und die Freiheiten der Bürger einzuschränken, um Leben zu retten – aber der Datenschutz darf nicht angetastet werden?
Der Datenaustausch spielt bei der Pandemiebekämpfung eine wichtige Rolle, aber er muss immer auf einer entsprechenden Rechtsgrundlage oder auf Freiwilligkeit beruhen. Ich finde, wir begeben uns auf einen völlig falschen Weg, wenn wir Gesundheitsschutz und Datenschutz gegeneinander ausspielen. Die entscheidende Frage ist doch: Welche Daten bringen uns bei der Pandemiebekämpfung wirklich weiter. Die Corona-warn-app ist nur nützlich, wenn genügend Menschen mitmachen. Dazu brauchen wir eine hohe Akzeptanz, die wir sicher nicht durch Zwang erreichen.
Ein anderes Grundrecht ist das Demonstrationsrecht. Als in Berlin kürzlich Wasserwerfer gegen Gegner der Corona-maßnahmen eingesetzt wurden, haben Sie erklärt, das sei richtig gewesen.
Zunächst einmal: Es geht bei der Bekämpfung der Corona-pandemie um den Schutz der Gesundheit und den Schutz des Lebens. Nur deswegen sind Grundrechtseinschränkungen in diesem Maße überhaupt denkbar. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung teilt diese Ansicht auch. Aber natürlich haben auch diejenigen, die es anders sehen, ein verbrieftes Recht, ihre Meinungen öffentlich kundzutun. Wenn jedoch gerichtlich bestätigte Regeln, die den Gesundheitsschutz betreffen, nicht eingehalten werden, muss notfalls eine Demonstration durch die Polizei beendet werden.
Sie waren in der Anti-atomkraftbewegung aktiv und haben selbst Wasserwerfereinsätze erlebt.
Ja. Aber damals wie heute gelten bestimmte Regeln bei Demonstrationen. Unabhängig von der geäußerten politischen Meinung.
So einsichtig waren Sie schon damals?
Die Polizei ist damals ziemlich hart vorgegangen. Es ist auch kein Vergnügen, von einem Wasserwerfer erfasst zu werden. Aber an die Regeln habe ich mich gehalten. Und wenn eine Demonstration aufgelöst wurde, habe ich den Versammlungsort verlassen. Wichtig war mir, meine Meinung deutlich zu machen.
Die Gerichte haben auch in der Pandemiezeit funktioniert und viele politische Entscheidungen kassiert. Und das Bundesverfassungsgericht greift schon lange in die Politik ein. Manche finden, entschieden zu oft.
Die Gerichte haben in der Pandemie ihre Aufgaben erfüllt und staatliche Entscheidungen überprüft. Die allermeisten Entscheidungen wurden von den Gerichten bestätigt. Wenn sie nicht gesetzeskonform waren, wurden einzelne Entscheidungen korrigiert. Das ist die Rolle der Gerichte in einem funktionierenden Rechtsstaat. Und so ist es auch mit dem Bundesverfassungsgericht. Das ist ein sehr austariertes System und erfährt hohe Anerkennung in der Bevölkerung.
Wie schätzen Sie das Vertrauen in den Rechtsstaat ein? Als stabil?
Absolut. Und das sehen wir auch in dieser Krise. Nur eine Minderheit sieht das anders. Das entbindet uns nicht von der
Verpflichtung, Entscheidungen zu begründen und uns mit Kritik konstruktiv auseinanderzusetzen.
Viele beklagen zu lange Verfahrensdauern. Gelegentlich werden Verfahren eingestellt, weil die Fälle nicht rechtzeitig bearbeitet wurden – klar, das ist alles Ländersache. Aber wenn das Ansehen des Rechtsstaates insgesamt in Gefahr ist, müsste auch die Bundesjustizministerin beunruhigt sein.
Genau aus diesem Grund haben wir zu Beginn der Legislaturperiode den „Pakt für den Rechtsstaat“geschlossen. Es wurden bereits viele der geplanten 2000 zusätzlichen Stellen für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und
Staatsanwälte bei der Justiz in den Ländern geschaffen und besetzt. Und im vergangenen Jahr haben wir mit der Kampagne „Wir sind Rechtsstaat“über die Funktion des Rechtsstaats informiert.
Sie werden nicht mehr für den Bundestag kandidieren. Warum denn nicht?
Ich übe mein Mandat gerne und mit großer Leidenschaft aus. Aber 22 Jahre im Bundestag sind eine sehr lange Zeit. Ich freue mich, den Staffelstab weiterzugeben und noch einmal etwas Neues beginnen zu können.
Am Ende werden Sie nur reichliche zwei Jahre Ministerin gewesen sein – sehen Sie sich gewissermaßen als unvollendet?
(lacht) Ach, ich trenne nicht zwischen der Parlamentarierinnenzeit und der als Ministerin. Ich bin in die Politik gegangen, um Dinge zum Besseren zu verändern. Und vieles hat sich geändert. Die Atomkraftwerke werden herunter-, die Kinderbetreuung wird hochgefahren. Ich habe bei vielem mithelfen dürfen. Das ist doch schön. Und auch in der Rechtspolitik haben wir einiges erreicht.
In der Zeit, in der Sie im Bundestag waren, wurde Ihr Sohn geboren. Der ist mittlerweile 20 Jahre alt. Was hat der von der Politik mitbekommen? Oder haben Sie ihn da rausgehalten?
Ganz und gar nicht. Er hat nicht selten bei Sitzungen zugehört. Er ist bei den Jusos aktiv und studiert.
Also zufrieden mit dem Sohn?
Absolut.
Fehlen wird beim nächsten Bundestagswahlkampf Ihr Rezeptbuch, das immer noch auf Ihrer Internetseite zu finden ist. Iris Berben, Martin Schulz, Ihr Sohn und einige andere haben da Ihre Rezepte veröffentlicht. Was aber ist Ihr Weihnachtsrezept?
Kalbsbraten. Lange bei niedriger Temperatur gegart. Mit Pilzen. Es gehört für mich zu Weihnachten, dass wir gemeinsam kochen.
Und wer ist „wir“in diesem Jahr?
Tatsächlich nur mein Sohn und ich. Anders geht es leider nicht.
Wir sind auf einem falschen Weg, wenn wir Gesundheitsschutz und Datenschutz gegeneinander ausspielen.
Wenn gerichtlich bestätigte Regeln nicht eingehalten werden, muss eine Demonstration beendet werden.
Die Redakteure André Bochow (links) und Michael Gabel mit der Ministerin.