Die meisten Angeklagten hüllen sich in Schweigen
Zum Auftakt des ersten Prozesses gegen die „Reuß“-gruppe hagelt es Anträge der Verteidigung. Zwei Mitglieder wollen zur Sache aussagen.
Als die Justizbeamten endlich das Signal bekommen, die Handschellen der Angeklagten zu lösen, surrt und klickt es geräuschvoll durch den Saal. Zumindest der Sound des ersten großen „Reichsbürger“-prozesses gegen neun mutmaßliche Mitglieder der Vereinigung um Heinrich Prinz Reuß ist damit gesetzt. Die Männer müssen auf ungepolsterten Klappsitzen hinter einer Wand aus Panzerglas Platz nehmen, getrennt von ihren Anwälten. Abgesehen von einzelnen Tattoos auf den Oberarmen, darunter ein Eisernes Kreuz, wirken sie unauffällig. Der frühere Stabsfeldwebel Andreas M. hat sich ein hellblaues Sakko übergeworfen und lächelt sibyllinisch in sich hinein. Ein anderer, Matthias H., winkt freudig ein paar Zuschauern, die ihn zu kennen scheinen.
Erst mit gut einstündiger Verspätung konnte das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart am Montag die Verhandlung gegen den „militärischen Arm“der Reußgruppe in Stuttgart-stammheim eröffnen. Die Sicherheitsvorkehrungen erinnern an frühere Rafprozesse. In dem modernen Neubau werden alle Besucherinnen und Besucher sowie Medienvertreter körperlich durchsucht, sogar die Schuhe werden kontrolliert. Bis jeder der insgesamt 95 Plätze im Zuschauerbereich besetzt ist, vergeht weitaus mehr Zeit als vom Gericht eingeplant.
Joachim Holzhausen, Vorsitzender Richter des 3. Senats, weiß, was ihm bevorsteht. Um etwas Ordnung in die Komplexität des Verfahrens zu bringen, versucht er es mit einer Mischung aus strukturiertem Vorgehen, klaren Ansagen und trockenem Humor. „Zum Sitzplan gibt es ständig Updates“, witzelt er zu Beginn, als er versucht, sich einen Überblick über die Angeklagten und ihre insgesamt 22 Verteidiger zu verschaffen.
Mit dem Prozessbeginn wurden alle Angeklagten in die Justizvollzugsanstalt Stammheim verlegt, „Asperger Straße 60“gibt der frühere Ksk-logistiker Andreas M. scherzend als seine Adresse an. Die Bundesanwaltschaft wirft den neun Männern vor, den „militärischen Arm“der Reußgruppe gebildet zu haben, die einen Umsturz der staatlichen Ordnung in Deutschland zum Ziel hatte. Laut Anklage waren sie für die Waffenbeschaffung und Ausbildung von Rekruten zuständig, kundschafteten Kasernen aus, kümmerten sich um Logistik, Infrastruktur und IT der Vereinigung. Ihnen wird hauptsächlich
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung eines „hochverräterischen Unternehmens“vorgeworfen. Einer der Männer steht zudem wegen versuchten Mordes vor Gericht, weil er bei einer Durchsuchung seiner Wohnung in Reutlingen auf Sek-beamte geschossen haben soll.
Verschwörungsmythen
Wie krude die Pläne der Umstürzler um den Immobilienunternehmer Reuß waren, wird bei der Verlesung der Anklage durch die Bundesanwaltschaft deutlich. Demnach hingen die Mitglieder der Vereinigung „Reichsbürger“ideologien sowie Verschwörungstheorien der Qanon-bewegung an. Sie glaubten an einen „Deep State“, wonach Deutschland von geheimen Mächten gelenkt wird. Und diese Mächte sollen in einem unterirdischen System rituellen Missbrauch von Kindern begangen haben, „um aus ihren Körpern ein Verjüngungselixier zu gewinnen“. Bei dem geplanten Umsturz mitsamt Stürmung des Bundestags hätten dafür Beweise gesammelt werden sollen – im Glauben, so die Bevölkerung auf die eigene Seite zu bringen.
Dirigiert von einem „M-stab“und einem übergeordneten „Rat“mit Reuß an der Spitze sollten die Angeklagten dafür sorgen, dass die Pläne mit Waffengewalt umgesetzt werden. Hunderte Waffen hatten sie dafür laut Anklage gehortet und mit dem Aufbau von 268 „Heimatschutzkompagnien“begonnen. Zu deren Aufgabe hätten auch „Säuberungen“und „Aufräumarbeiten“gehört – die Tötung von Repräsentanten des alten Systems eingeschlossen.
Zwei der Angeklagten kündigten an, auszusagen. Dazu gehört Ralf S. aus Horb, der die für Tübingen und Freudenstadt zuständige „Heimatschutzkompagnie Nr. 221“geleitet haben soll. Außerdem Wolfram S. aus Ettlingen, der sich laut Anklage um den Aufbau der It-struktur und einer abhörsicheren Kommunikation kümmerte. Ein weiterer Angeklagter, Alexander Q., soll einen Telegram-kanal für die Gruppe betrieben haben und will zum Werdegang Angaben machen.
Wann es zu den ersten Aussagen kommt, ist offen. Mehrere Verteidiger forderten, die örtliche Unzuständigkeit des OLG Stuttgart festzustellen und das Verfahren einzustellen oder auszusetzen. Sie monierten, dass der Reuß-komplex von der Bundesanwaltschaft in drei Verfahren aufgeteilt wurde. Im Mai und Juni sollen zwei weitere Prozesse beginnen, einer in Frankfurt gegen die Spitze der Vereinigung, einer in München gegen mutmaßliche Unterstützer. Die Aufteilung verstoße gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens. Es bestehe die Gefahr, dass Zeugen in den jeweiligen Prozessen unterschiedliche Angaben machen.
Richter Holzhausen stellte die Entscheidung über die Anträge zunächst zurück, lehnte aber zugleich eine Aussetzung der Hauptverhandlung „zum jetzigen Zeitpunkt“ab. Eine Verzögerung der Hauptverhandlung müsse vermieden werden.