Chance auf Mehrwert
Europa kann auch schnell. Erst im Mai hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Format vorgeschlagen, im Sommer wurde diskutiert, und nun findet er schon statt: der erste Gipfel der neuen „Europäischen Politischen Gemeinschaft“(EPG). 44 Länder sind auf die Prager Burg eingeladen mit dem Ziel, „Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zu stärken“, wie es in der Einladung heißt. Dabei sind neben den 27 Eu-mitgliedern 17 weitere europäische Länder von der Ukraine über die Türkei bis Großbritannien.
Die schiere Größe der Versammlung ist gerade in diesen Tagen ein Wert an sich, um dem russischen Riesenreich gegenüberzutreten beispielsweise. Die große Vielfalt der Teilnehmer ist aber auch ein Risiko. Streit und Spaltung kann sich Europa heute weniger denn je leisten. Und an Kooperationsrunden herrscht auf dem hiesigen Kontinent wahrlich kein Mangel, man denke an Europarat, OSZE, diverse Partnerschaften und nicht zuletzt die Nato.
Schon der sperrige Name beinhaltet eine Warnung: Denn die erste Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) scheiterte Anfang der 1950er Jahre, noch ehe sie Wirklichkeit wurde. Misslingt nun auch der zweite Anlauf, droht die EU selbst ebenfalls Schaden zu nehmen, die als Gastgeber und Initiator im Führerhäuschen sitzt.
Geboren wurde die Idee, weil Europa sozusagen von innen und außen unter Druck ist: Es geht zum einen darum, der Aggression Russlands möglichst geeint zu begegnen. Das wird nicht leicht, denn schon innerhalb der Kompromissmaschine EU ist es oft schwierig, eine gemeinsame Linie zu finden. Da will die griechische Reederzunft nicht auf ihr Transportgeschäft mit russischem Öl verzichten oder die bulgarische Regierung keine neuen Sanktionen. Auch Deutschland steht gerade wegen seines Entlastungs-alleingangs in der Kritik, weil die Milliardenhilfen als unfairer Vorteil für die eigene Wirtschaft gewertet werden.
Auf der EU lastet zugleich der Erwartungsdruck der Beitrittskandidaten. Schon lange wollen die Länder des Westbalkans Mitglieder werden, und nun klopft auch die Ukraine an die Tür. Sie alle hegen nicht ganz zu Unrecht den Verdacht, dass Macrons EPG in Wahrheit eine Art Edel-wartezimmer der EU ist, in dem sie auf luxuriösen Ledersesseln immer wieder vertröstet werden und noch dazu den Raum mit zweifelhaften Schicksalsgenossen teilen sollen: der Türkei beispielsweise, die dort schon ewig unter Staub und Spinnweben hockt, oder Großbritannien, das in eine ganz andere Richtung will – möglichst weit weg von der EU nämlich. Erst als Premierministerin Liz Truss im übertragenen Sinne versichert wurde, sie müsse sich keinesfalls setzen und auch nirgendwo mitmachen, sagte sie zu, überhaupt nach Prag zu kommen.
Dennoch: Die Idee ist quasi die Neuauflage eines Europas der zwei Geschwindigkeiten – und die ist gut. Die EU muss die Freiheit haben, an ihrer Vertiefung zu arbeiten. Und Länder wie die Ukraine, Nordmazedonien oder Bosnien und Herzegowina brauchen mehr als Versprechen und Hoffnungen. Die EPG muss nun ihren Mehrwert unter Beweis stellen.
Die Vielfalt der Teilnehmer ist auch ein Risiko: Streit kann sich Europa heute weniger denn je leisten.