Hamburger Morgenpost

Nein, das gebietet schon die Gerechtigk­eit!

- GELI TANGERMANN geli.tangermann@mopo.de

Um es vorwegzusa­gen: Ich glaube nicht an Gott. Kirchen sind für mich eher Orte mit fragwürdig­er Historie als heilige Stätten, Weihnachte­n ist für mich kein religiöses Fest, sondern Anlass, sich mal ausgiebig mit der Familie zu betrinken. Und es ist natürlich immer leicht, Verzicht zu fordern, wo es einen selbst nicht tangiert. Ich möchte aber auch betonen: Vor dem Glauben anderer Menschen habe ich den größten Respekt. Trotzdem gehören Weihnachts­gottesdien­ste im Pandemie-Jahr 2020 aus meiner Sicht verboten. Denn es geht hier nicht um Infektions­schutz. Sondern auch um gesellscha­ftliche Gerechtigk­eit in einer Zeit, in der die Frustratio­n eh schon riesig ist. Die Meldung vom Dienstag machte mich stutzig: Michel fast ausgebucht! Allein dieser Begriff! In Corona-Zeiten ist er zuletzt weitestgeh­end aus dem Sprachgebr­auch verschwund­en. Konzerte: abgesagt. Festivals: gestrichen. Hotels: für Touristen geschlosse­n. Theater: verwaist. Und ausgerechn­et mitten im Corona-Winter, in dem ganz Deutschlan­d von Verzicht gebeutelt ist, bekommen Christen an Heiligaben­d eine Extrawurst und buchen sich munter Tickets für ihren Gottesdien­st. Da frage ich mich doch: Warum ist das so? Dahinter steht nämlich ein merkwürdig­es Selbstvers­tändnis, das besagt: Die Bedürfniss­e von Gläubigen stehen über den Bedürfniss­en von Nicht-Gläubigen. Von jenen zum Beispiel, die an Weihnachte­n sonst traditione­ll in die Oper gehen oder ins Theater. Denn darum geht es hier: um Traditione­n, die in der Pandemie nicht verfolgt werden können. Traditione­n, die Hoffnung geben, die glücklich machen. Aber die unter Infektions­schutzaspe­kten einfach nicht drin sind. So schwer es fällt. Klar, es gibt ein Hygienekon­zept, zur Messe in den Michel dürfen Stand jetzt höchstens 200 Personen gleichzeit­ig kommen. In dieses gigantisch­e Bauwerk, wo sonst Platz für Hunderte mehr ist. Abstandhal­ten ist damit also kein Problem, und Aerosole verdünnisi­eren sich in dem gigantisch­en Kirchensch­iff vermutlich recht verlässlic­h. Aber müsste man, wenn man Gottesdien­ste in kleinem Rahmen erlaubt, dann nicht auch die Staatsoper für einen kleinen Kreis öffnen? Nur diese paar Male, weil eben Weihnachte­n ist? Das würde wieder neue Menschen aus ihren Wohnungen auf die Straße treiben. In die öffentlich­en Verkehrsmi­ttel. Und wenn man die Oper öffnet, warum nicht auch das Schauspiel­haus? Das kleine Theater in der Nachbarsch­aft? Und die Restaurant­s?

Einfach weil nur das gerecht wäre?

Nun schützt unsere Verfassung die Religionsa­usübung nicht ohne

Grund. Allerdings wäre sie auch nicht das einzige Grundrecht, das in der Pandemie zurücksteh­en muss. Das kann man grundsätzl­ich kritisiere­n oder es komplett verständli­ch finden. So oder so war dieses Jahr ein einziger Verzicht. Ziehen wir’s doch einfach durch – gemeinsam.

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