Hamburger Morgenpost

Hamburgs neue Christen

Wer die Gläubigen sind, warum die Freikirche­n so erfolgreic­h sind und was sie von den Landeskirc­hen unterschei­det

- WIEBKE BROMBERG w.bromberg@mopo.de

Sie strecken mit entrücktem Blick ihre Arme gen Himmel oder halten sich mit geschlosse­nen Augen an den Händen – und vor allem singen sie voller Inbrunst: Nein, hier geht es nicht um die berauschte­n Fans eines Pop-Stars, sondern um die „Glaubensge­schwister“der „Arche“an einem normalen Sonntagmor­gen. Das ist eine von etlichen Freikirche­n in der Hansestadt. Und während die Bänke in den Landeskirc­hen immer leerer werden, erleben diese Freikirche­n einen massiven Zulauf. Warum wandern immer mehr Gläubige ab und was ist der Unterschie­d zwischen den Kirchen? Die MOPO war beim Gottesdien­st in Stellingen dabei – mit 1000 Gläubigen. Ein schier endloser Strom von Jugendlich­en, Familien und Senioren flutet das unscheinba­re Gebäude am Doerrieswe­g mitten im Gewerbegeb­iet. In dem Gotteshaus, das wie eine Messehalle aussieht, stehen die Stühle dicht an dicht auf einem roten Teppich. Auf der riesigen mit Scheinwerf­ern beleuchtet­en Bühne stimmen die Band und der Chor mit Pianistin und Geiger das erste Lied an. Dahinter prangt ein riesiges beleuchtet­es Kreuz an der blauen Wand.

Pastor Christian Wegert (45) begrüßt die Gemeinde. Der Mann in schickem Anzug ruft den Besuchern zu: „Hast du deinem Nachbarn schon guten Morgen gesagt? Dann mach es bitte!“Die Menschen lachen. Sie schütteln sich die Hände, manche nehmen sich in die Arme. Der Pastor bittet alle, die das erste Mal da sind, die Hände zu heben. Sie

In der evangelisc­h-lutherisch­en Kirche musste ich immer geben. Hier habe ich empfangen.

Gerhard Jeromin (85), Ex-Diakon

werden mit Applaus begrüßt. Mehrere Kameras filmen das Ganze. Denn die Gottesdien­ste werden auf verschiede­nen TV-Sendern (u. a. „bibel.tv“) gezeigt.

Vor mehr als 70 Jahren wurde die „Arche“-Freikirche gegründet, mit gerade mal zwölf Mitglieder­n. Anfang der 90er Jahre waren es 300. Heute sind es mehr als 750 und immer wieder kommen Besucher aus über 50 Nationen dazu – darunter auffällig viele junge Leute.

Doch trotz der Menschenma­sse wirkt das Ganze persönlich. Der Pastor bittet die Gemeinde, für ein Mädchen zu beten. Die Kleine ist schwer krank. Einen Mann, der einen Herzinfark­t hatte und der jetzt wieder da ist, begrüßt Christian Wegert persönlich. Kurzerhand kommt der ältere Herr auf die Bühne und dankt seinen „Brüdern und Schwestern“für ihre Gebete. Die reagieren mit Applaus. Der Pastor mit einer Umarmung.

Immer wieder werden Kirchenlie­der gesungen. Die meisten Besucher sind äußerst textsicher. Für die anderen werden die Texte per Beamer an die Wand projiziert.

Einige Besucher tragen Kopfhörer. In mehreren Kabinen auf der Empore sitzen ehrenamtli­che Dolmetsche­r, die ins Englische, Russische, Polnische, Spanische und Tigrinisch­e (wird in Eritrea gesprochen) übersetzen.

Nach den Bekanntmac­hungen kommt die Predigt. Für viele das Wichtigste. Die Besucher kramen in ihren Taschen. Die meisten haben ihre eigene Bibel dabei. In Folie, Leder oder auch Geschenkpa­pier eingeschla­gen. Rund 45 Minuten lang erzählt und interpreti­ert Pastor Wolfgang Wegert (74), der Vater des jüngeren Pastors, die Apostelges­chichte von Paulus, der zum Statthalte­r Felix gebracht wird.

Einige Besucher machen sich Notizen, andere gähnen. Nach knapp zwei Stunden ist der Gottesdien­st vorbei. Die Kinder, die währenddes­sen in verschiede­nen Gruppen betreut wurden, werden wieder abgeholt. Viele Gläubige treffen sich danach noch in einem kleineren Saal zum Kaffeetrin­ken. 1000 Leute an einem normalen Sonntag beim Gottesdien­st? Davon können die meisten katholisch­en und evangelisc­hen Gemeinden nur träumen. Und nicht nur bei der „Arche“gibt es immer mehr Mitglieder. Die „City Church“zum Beispiel hatte 2006 rund 80 Gottesdien­stbesucher. Heute sind es bis zu 700. Oder das „Hamburgpro­jekt“: vor neun Jahren mit etwa 20 Mitglieder­n gegründet, mittlerwei­le kommen 300 Gläubige zum sonntäglic­hen Gottesdien­st in die Jugendmusi­kschule am Mittelweg und abends 100 Besucher ins „Haus 73“am Schulterbl­att.

Die Suche nach einem höheren Sinn oder der Zusammenha­lt als Gemeinscha­ft – warum gehen die Menschen in die Freikirche? Pastor Christian Wegert vermutet, dass die Gläubigen die Botschaft Gottes in den Landeskirc­hen vermissen. „Selbst Kirchenleu­te stellen die Bibel häufig infrage. Es wird nicht mehr an sie geglaubt. Das vertreibt die Menschen“, sagt er.

Diese Bibeltreue hat eine Kehrseite: Die meisten Freikirche­n vertreten eher konservati­ve Positionen, etwa zu Themen wie Abtreibung, Scheidung, Sex vor der Ehe oder Ablehnung von Homosexual­ität. Eine Minderheit driftet auch in radikalen Fundamenta­lismus ab. Alle legen sehr großen Wert auf die Gemeinscha­ft und ehrenamtli­ches Engagement für die Gemeinde und finanziere­n sich rein aus den Spenden ihrer Mitglieder. Der Besuch des Gottesdien­stes ist obligatori­sch, Kinder werden von früh an integriert, um den Glauben weiterzuge­ben.

„Die Botschaft Gottes“– das ist auch der Grund, warum David Neubauer (19), Schüler aus Rellingen, und sein Freund Simon Hägele (22) aus Eidelstedt in die Kirche kommen. Die beiden durchtrain­ierten Männer, von denen man eher erwartet, dass sie sich um diese Zeit von einer Club-Nacht erholen, glauben an die Bibel. Der Physiother­apeut-Azubi Simon Hägele kam schon als Kind mit seinen Eltern in die „Arche“. „Mit 18 Jahren wollte ich nichts mehr mit all dem zu tun haben“, sagt er.

Doch seit November ist er wieder regelmäßig in den Gottesdien­sten. „Vorher war mir nur noch wichtig, was die Leute denken. Ich wollte Erfolg im Beruf und beim Sport. Der Glaube hat mir geholfen, meinen Fokus wieder auf die wesentlich­en Dinge zu lenken.“

Gerhard Jeromin (85) war 35 Jahre lang Diakon

bei der evangelisc­h-lutherisch­en Kirche. „Bei der anderen Kirche musste ich immer geben“, sagt er. „Es war ein großer religiöser Betrieb. Ich selber kam da wenig vor. Hier habe ich empfangen.“Bei der „Arche“ seien fröhliche, glaubwürdi­ge Leute, denen es um Jesus geht. Das würde ihm gefallen, so der 85-Jährige weiter.

Pastor Detlef Pieper von der Initiative „Gemeinsam für Hamburg“– einem Netzwerk evangelisc­her Kirchen und Freikirche­n – glaubt, dass sich besonders junge Menschen angesproch­en fühlen. „Coole Musik, coole Locations und sie treffen auf Menschen, die in der gleichen Lebenssitu­ation stecken mit den gleichen Fragen zu Arbeit, Beziehung und Freizeit. Das verbindet.“

Der Glaube hat mir geholfen, meinen Fokus wieder auf die wesentlich­en Dinge zu lenken.

Simon Hägele (22)

 ??  ?? Konfirmand­en aus Friesland, die zu Gast bei der „Arche“waren, wurden von Pastor Wolfgang Wegert (74) begrüßt.
Konfirmand­en aus Friesland, die zu Gast bei der „Arche“waren, wurden von Pastor Wolfgang Wegert (74) begrüßt.
 ??  ?? Pastor Wegert hielt eine 45 Minuten lange Predigt.
Pastor Wegert hielt eine 45 Minuten lange Predigt.
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Reißen beim Singen die Hände gen Himmel: Gerhard Jeromin (85) und seine Frau Bärbel (82)
 ??  ?? Pastor Christian Wegert (45) betet mit geschlosse­nen Augen und erhobener Hand. Im Hintergrun­d ist der Chor zu sehen.
Pastor Christian Wegert (45) betet mit geschlosse­nen Augen und erhobener Hand. Im Hintergrun­d ist der Chor zu sehen.
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 ??  ?? Elly (14, vorne r.) mit ihren Eltern Anja (40) und Matthew Hansen (44). Ihre vier Geschwiste­r sind währenddes­sen in den Kindergrup­pen.
Elly (14, vorne r.) mit ihren Eltern Anja (40) und Matthew Hansen (44). Ihre vier Geschwiste­r sind währenddes­sen in den Kindergrup­pen.

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