Macht und Missbrauch
Die schweren Vorwürfe gegen Dieter Wedel sind ein weiteres Indiz: Vieles läuft schief zwischen Mann und Frau. Das hat auch mit falscher Scham zu tun
Mächtige Männer, die Frauen unter Ausnutzung ihrer Stellung zu sexuellen Handlungen drängen – was mit der Weinstein-Debatte in Hollywood begann, ist mit den schweren Vorwürfen gegen Dieter Wedel jetzt auch in Deutschland angekommen. Das uralte Problem ist ein Relikt aus düsteren Zeiten. Es wird Zeit, es endlich offensiv anzugehen.
„Ich bin Ann-Marlene Henning, ich bin Sexologin.“So eröffnete ich meine Fernsehsendungen, die eine zentrale Botschaft hatten: „Guten Sex kann man lernen.“Sie fragen, was guter Sex ist? Die Antwort ist: Wenn beide etwas spüren. Und: Wenn beide es wollen! Dieser Zusatz ist angesichts der aktuellen Sexismus-Debatte besonders wichtig.
In Sachen Sex haben wir in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Moderne Menschen „verhandeln“die Umstände ihrer Sexualität: Wollen wir überhaupt? Was gefällt dir? Was mir? Was machen wir?
Das mag lapidar klingen, ist aber ein riesiger Fortschritt. Denn diese „Verhandlungsmoral“hat das Regime der „Verbotsmoral“abgelöst.
Früher steckten Kirche und Moralverfechter den Rahmen des Zulässigen mit Regeln ab. Die Folge war: Nach außen wurde der moralische Schein gewahrt, im dunklen Kämmerlein hinter verschlossener Tür taten sich dann die Abgründe auf.
Dank der Etablierung der „Verhandlungsmoral“gilt jetzt: Bestimmte sexuelle Dinge gelten heute – da ist man sich weitgehend einig – als absolut unakzeptabel. Sex mit Kindern zum Beispiel. Jegliche Art von Grenzüberschreitung, Missbrauch oder Gewalt.
All das ist verpönt, weil eben ohne Zustimmung eines Partners auf Augenhöhe. Hierzu gehören auch Sexismus, also die unbewusste oder bewusste Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts, und sexuelle Belästigung.
Alles gut, also? Natürlich nicht! Denn Simone de Beauvoir wusste schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Es macht einen großen Unterschied, ob jemand als Frau oder Mann auf die Welt kommt. Männer hatten und haben mehr Macht, mehr Rechte.
Das ist eben auch ein Ergebnis langjähriger Erziehung. Früher wurde die weibliche Lust schlicht geleugnet. Oder sogar ausradiert, das Genital der Frau auf Erbsengröße reduziert.
Und sogar heute bringen wir Mädchen bei, dass es „da unten“riecht. Jede Kleine soll sich daher gründlich waschen, bloß nicht hinfassen oder dabei Lust spüren.
Später soll sie dann unglaublich sexy und für den Mann bereit sein, der sie einnehmen möchte. Aber sich doch bitte nicht „wie eine Schlampe benehmen“!
Der Mann hingegen darf sich sexuelle Erfahrung holen, gilt dann sogar als toller Hecht.
Es wird nach wie vor mit zweierlei Maß gemessen. Und diese Tatsache spielt eine große Rolle dabei, dass Sexismus in so umfassender Form überhaupt stattfinden kann.
Sexistische Übergriffe spiegeln fast immer männliche Dominanz, deren Rechtfertigung auf dieser Erziehung fußt: „Ich kann nicht anders, mein Schwanz entscheidet. Es ist ein Trieb!“Wissenschaftlich gesehen ist das Quatsch: Die sexuelle Lust folgt keinem herkömmlichen Triebmuster, sondern funktioniert eher wie Neugierde, ist also kontrollierbar.
Übrigens richten sich solche Übergriffe nicht nur gegen Frauen: Man denke nur an all die kleinen Jungen in bestimmten katholischen Einrichtungen.
Schon immer haben Männer sexuelle Leistungen eingefordert und Frauen „zugestimmt“, weil sie fürchteten, ihre Karriere oder ihr öffentliches Ansehen würden sonst ruiniert werden, bestimmte Jobs seien sonst für sie unerreichbar. Die aktuelle Debatte ist deshalb wichtig, weil sie genau dies ans Licht bringt. Dieser Sex, der nicht einvernehmlich ist oder unter großem Druck „vereinbart“wird, ist nicht verhandelt, sondern erzwungen. Die Öffentlichkeit regt sich zu Recht auf. Was können wir also tun? Wir müssen uns freimachen von der Scham! Nicht von der natürlichen Scham. Die hat ihre Berechtigung, sie wahrt die sexuelle Intimität. Es geht um die völlig übertriebene und angelernte Scham im Bereich der Sexualität. Sie ist ein riesiges Problem. Weil sie verhindert, dass wir über diese Themen sprechen. Und es so ermöglicht, schwächere Individuen auszunutzen. Wir als Gesellschaft müssen es hinbekommen, über diese Themen zu sprechen. Und Frauen und Männer müssen wirklich die gleichen Rechte haben. Dann gibt es auch das reale Recht, „Nein“zu sagen – zu einem Mann in einer Machtposition. Würden wir unsere Kinder entspannt aufklären, sie ihren eigenen Körper kennenlernen lassen, sie könnten das Selbstbewusstsein entwickeln, über ebendiesen Körper zu entscheiden und stark zu sein – auch gegen Machtmissbrauch. Es geht nicht um eine Hexenjagd gegen Männer. Es gibt etliche „gewagte“sexuelle Handlungen zwischen Fremden oder Bekannten, Chefs und Angestellten, die Teil eines von beiden gewollten Flirts sind. Das Problem fängt da an, wo nur einer etwas möchte und es trotzdem zu zweit weitergeht. Wir sollten mutig, klar und deutlich darüber sprechen, manchmal auch laut. Damit es jeder hört.
„Männer hatten und haben mehr Macht und mehr Rechte.“ Sexistische Übergriffe sind keine Folge eines Triebs. Lust funktioniert eher wie Neugierde, ist also kontrollierbar.