Das Protokoll des Jahrhunderthochwassers
Zwischen Freitag und Sonntag überschlagen sich die Ereignisse im Landkreis Günzburg. Das ist in den vergangenen Tagen passiert. Der Reihe nach.
Die Tage vom 31. Mai bis zum 2. Juni 2024 werden in die Geschichte des Landkreises Günzburg eingehen. Ein 100-jähriges Hochwasser überrollt die Region – mit schlimmen Folgen. Unsere Redaktion hat die Stunden vom Freitag bis zum Sonntag online per Liveticker begleitet. Das Protokoll eines Wochenendes, das viele an die Grenzen ihrer Kräfte gebracht hat.
Freitag
• 10:00 Uhr: Auf den Landkreis Günzburg kommt etwas zu. Das ist beim Blick auf die Wetterkarten klar. Die Vorbereitungen für ein anstrengendes Wochenende beginnen. Unter anderem werden 15.000 Sandsäcke gefüllt, Feuerwehren, THW und Rettungsdienste machen sich bereit. Im Landratsamt laufen die Gespräche auf Hochtouren, wie man dieser Situation am besten begegnen kann. Aufhalten lässt sich die Flut nicht.
• 12 Uhr: Die Wasserversorgung in Leipheim erfolgt ab sofort über das Wasserwerk auf dem Areal Pro, das Donauwasserwerk wird abgeschaltet. Vorsichtshalber muss das Trinkwasser der Stadt vorübergehend gechlort werden. Die Bürger und Bürgerinnen werden aufgerufen, sich vorsorglich mit Mineralwasser bevorraten. Die Stadt bittet die Bewohner der Wedelek-Siedlung, Kohlplatte und Krautgarten, sich vorzubereiten und wertvolle Gegenstände aus den Kellern zu entfernen, alle Kelleröffnungen zu schließen und Öltanks zu sichern.
• 17:30 Uhr: Alle Campingplätze werden geräumt – am Oberrieder Weiher etwa wird sich zeigen, wie wichtig diese Entscheidung war. Der Platz, auf dem die Feuerwehrleute aus Breitenthal noch geholfen haben, Zelte abzubauen und Wohnwagen wegzubewegen, ist wenige Stunden später überflutet.
• 18 Uhr: Der Landkreis Günzburg ruft als erster in Bayern den Katastrophenfall aus – am Wochenende werden weitere Kreise folgen, darunter auch Neu-Ulm und Unterallgäu. „Wir nehmen die Situation sehr ernst“, sagt Landrat Hans Reichhart. „Wir wollen, die Zeit, die wir jetzt noch haben, bis das Hochwasser den Landkreis erreicht, optimal nutzen.“
• 21 Uhr: Landrat Reichhart meldet sich auf Instagram und Facebook zu Wort. Am Samstag werde ein Hochwasser im Landkreis erwartet, das nur alle hundert Jahre kommt.
• 22 Uhr: Mehrere Straßen, etwa zwischen Breitenthal und Deisenhausen, müssen wegen der Hochwassergefahr gesperrt werden. Erwartet werden Pegelstände der
Meldestufe 3 bis 4. Im Landratsamt geht man davon aus, dass stellenweise sogar HQ100, also ein hundertjähriges Hochwasser überschritten werden kann.
• 23:00 Uhr: In Thannhausen bauen Feuerwehr und Bauhof die beiden Deichtore Bayersrieder Straße und Ursberger Straße auf. Der Hochwasserschutz wird sich als Segen erweisen – Thannhausen hat kaum Schäden zu beklagen.
Samstag
• 7:30 Uhr: Die Befürchtungen sind wahr geworden: Im Landkreis herrscht ein Hochwasser, wie es eigentlich nur alle 100 Jahre vorkommt. Am Morgen sind die ersten Straßen und Wege überflutet. Im Bereich der Verwaltungsgemeinschaft Krumbach gibt es viele Sperrungen – hier wird das Hochwasser noch heftig zuschlagen.
• 8:00 Uhr: Trotz der angespannten Lage plant der Bayerische Fußballverband, den letzten Spieltag der Männer möglichst durchzuziehen. Eine umstrittene Entscheidung, die der Verband auch am Sonntag nicht fallen lassen will.
• 8:45 Uhr: Der Krumbacher Stadtgarten ist überflutet, das Wasser steigt weiter an.
• 9:30 Uhr: Landrat Reichhart spricht im Interview mit Chefredakteur Peter Müller über die Lage im Landkreis. „Wir rechnen in der Nacht vom Samstag auf Sonntag gegen ein oder zwei Uhr mit dem Peak. Viele Menschen haben die ganze Nacht durchgearbeitet, Sandsäcke gefüllt, auch die Einsatzzentrale ist rund um die Uhr besetzt.“
• 11:45 Uhr: Der Schwerpunkt des Hochwassers liegt im südlichen Landkreis, doch auch weiter nördlich macht sich das Wasser bemerkbar: Auf dem Sportplatz des VfR Jettingen haben sich riesige Pfützen gebildet. Im Untergeschoss
beim Kabineneingang steht das Wasser, es wird abgepumpt.
• 12:00 Uhr: In Deisenhausen wird ein Deich geöffnet, um der ausufernden Günz Raum zu geben. Menschen haben dort offenbar bereits ihre Häuser verlassen.
• 12:15 Uhr: In Rücksprache mit dem Wasserwirtschaftsamt und den Lechwerken beschließt das Landratsamt, den Deich bei Höselhurst zu öffnen und Wasser kontrolliert ins Günztal umzuleiten.
• 13:30 Uhr: Landrat Hans Reichhart ist unermüdlich im Landkreis unterwegs, wie die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie die Einsatzkräfte erlaubt er sich kaum eine Pause. Der Landrat macht sich ein Bild von der Situation vor Ort, unter anderem im überfluteten Krumbach und in Höselhurst, wo der Damm geöffnet wird. „Das Hochwasser ist flächendeckend. Der gesamte Landkreis und alle Flüsse sind betroffen. Auch kleine, die sonst nie betroffen waren“, so das Landratsamt.
• 14:30 Uhr: Im Bereich Wiesenbach ist ein Damm abgetragen worden, der sich westlich davon im Roggenburger Wald befindet. Dadurch konnte Gefahr für die Einwohner Wiesenbachs abgewendet werden. Schon 2013 war die Gemeinde heftig vom Hochwasser betroffen. Auch in der Nachbargemeinde Deisenhausen sind weite Teile überflutet. Hier wird die Lage immer dramatischer. Der Landrat postet eine Luftaufnahme: Das Gebiet sieht wie eine Seenlandschaft aus.
• 15:00 Uhr: Der Norden des Landkreises stellt sich darauf ein, dass auch hier schwere Stunden bevorstehen. „Es gibt in dieser Situation aber auch eine positive Nachricht: Die Trinkwasserversorgung in Günzburg ist aktuell nicht gefährdet“, teilt der Günzburger Oberbürgermeister Gerhard Jauernig mit.
• 15:30 Uhr: In Krumbach muss die Feuerwehr auf Boote zurückgreifen, um durch die überflutete Innenstadt zu kommen.
• 16:15 Uhr: Immer wieder fällt in den vom Hochwasser betroffenen Gebieten der Strom aus oder muss aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden. Besonders im Kammeltal sind viele Haushalte ohne Strom. Die LEW konnte am Samstag noch für viele Bereiche eine Notstromversorgung aufbauen.
• 17:30 Uhr: Das Legoland in Günzburg bleibt geöffnet. Aber nicht zum Vergnügen: Das Gelände liegt außerhalb des Hochwassergebiets und ist, so bestätigen es die Behörden, als sicher eingestuft. Dadurch können auch rund 200 Einsatzkräfte Unterkünfte und Verpflegung im Legoland bekommen. Am Sonntag fällt die Entscheidung, den Peppa Pig Park erst am Dienstag wieder zu öffnen. Insgesamt werden 280 Einsatzkräfte aus ganz Bayern im Landkreis Günzburg helfen. Außerdem unterstützt die Bundeswehr die Helferinnen und Helfer.
• 18:30 Uhr: Die Bahn stellt den Verkehr auf der Strecke Günzburg – Mindelheim infolge des Hochwassers komplett ein.
• 20:00 Uhr: Landrat Reichhart wird im Brennpunkt des Bayerischen Rundfunks zugeschaltet. Er spricht von einer ernsten Lage.
Sonntag
• 08:00 Uhr: Über Nacht hat sich die Hochwasserlage in den Norden verlagert. Besonders betroffen ist Offingen, wo die Mindel weit über den Pegelstand eines 100-jährigen Hochwassers hinaus angeschwollen ist. Große Sorge herrscht um einen 22-jährigen Feuerwehrmann, der vermisst wird. Hubschrauber suchen nach ihm – bis Redaktionsschluss erfolglos.
• 8.30 Uhr: In Breitenthal ist der Damm zwischen den beiden Oberrieder Weihern gebrochen. Der neu angelegte Rundweg ist komplett zerstört, sagt Bürgermeisterin Gabriele Wohlhöfler. Auch sie war die vergangenen beiden Tage praktisch ohne Pause im Einsatz.
• 11.35 Uhr: „Es ist brutal, wir haben eine Extremlage.“Das sagt Günzburgs Oberbürgermeister Gerhard Jauernig. Er sei am Sonntagmorgen bereits sechs Stunden lang mit der Einsatzleitung unterwegs gewesen. „Es geht in den nächsten Stunden nur darum, Menschenleben zu retten“, sagt Jauernig.
• 12:00 Uhr: In Günzburg wird die Lage sehr schnell sehr dramatisch. Teile der Unterstadt werden evakuiert. Nicht alle Menschen sind damit einverstanden – teilweise muss sogar die Polizei einschreiten und der Aufforderung, die Wohnung zu verlassen, Nachdruck verleihen.
• 12.54 Uhr: Per NINA-Warnapp und Aufruf über alle verfügbaren Kanäle werden die Menschen in weiteren Teilen der Günzburger Unterstadt dazu aufgefordert, ihre Wohnungen verlassen.
• 15:00 Uhr: Immer mehr Menschen in Günzburg werden aus ihren Wohnungen geholt, auch Altenheimbewohner müssen die Einrichtungen verlassen. In der Dossenberger-Turnhalle wird ein Evakuierungslager eingerichtet. Etwa 150 Menschen werden derzeit dort betreut. Das Betreuungskontingent Unterfranken reiste im Auftrag der Regierung in der Samstagnacht mit 67 Mann und 22 Fahrzeugen an. Beim Lidl-Supermarkt sind etwa 100 Freiwillige dabei, weitere Sandsäcke zu befüllen.
• 15:30 Uhr: Bei den Stadtwerken Günzburg treffen Ministerpräsident Markus Söder und Innenminister Joachim Hermann ein, zuvor hatten sie sich im massiv vom Hochwasser betroffenen Babenhausen (Landkreis Unterallgäu) ein Bild der Lage gemacht.
• 15:45 Uhr: Die Pfingstferien enden – am Montag sollte eigentlich die Schule wieder beginnen. Doch kann im Landkreis überhaupt Unterricht stattfinden? Laut Schulamtsdirektor Thomas Schulze gibt es im Landkreis keine generelle Schulschließung. Dort, wo es möglich ist, soll der Unterricht auch stattfinden. Fest steht bereits am Sonntagnachmittag, dass mehrere Grundschulen wegen Hochwasser geschlossen bleiben. Das St. ThomasGymnasium Wettenhausen hat bereits am Vormittag angekündigt, dass dort der Unterricht ausfällt.
• 16:30 Uhr: Das Tierheim in Günzburg liegt unweit der Donau und Nau und musste ebenfalls evakuiert werden. Das BKH hat die Schützlinge aufgenommen.
• 17 Uhr: Eine erneute Unwetterwarnung erreicht den Landkreis.
• 17.30 Uhr: Günzburgs Oberbürgermeister Gerhard Jauernig bedankt sich in einem Statement: „Die Einsatzkräfte, aber auch die spontanen Helfer haben heute großartiges geleistet. Ich bin stolz auf meine Günzburger, die alle toll zusammengeholfen haben.“
• 17.37 Uhr: Aus Burgau kommt eine neue Warnung: Die Mindel staut sich zurück und die Pegel steigen rasant an. Die Bewohner werden gebeten, sich in höhere Stockwerke zu begeben. Das Jahrhundert-Hochwasser ist nicht vorbei.
Es hätte eigentlich vieles zu kommentieren gegeben diese Woche im Landkreis Günzburg. Da ist die Sparkassenfusion, die die letzte Hürde genommen hat. Das Bahnprojekt Augsburg-Ulm, bei dem zwei Streckenführungen aus dem Rennen sind. Das Kernkraftwerk Gundremmingen, dessen Rückbau endgültig unaufhaltsam ist. So bedeutend diese Themen am Mittwoch noch erschienen: So klein, so unbedeutend sind sie an diesem Wochenende geworden. Das letzte Wochenende der Pfingstferien 2024 geht in die Geschichte des Landkreises ein. Es sind Tage, die wir nicht vergessen werden. Häuser wurden durch das Hochwasser beschädigt, Straßen weggerissen, Felder verwüstet. Ein Feuerwehrmann wird vermisst.
Von diesen Tagen, an denen die Wasser als unaufhaltsame Welle durch den Landkreis geschwappt ist, als Sandsäcke und Pumpen nicht mehr halfen und Dämme gebrochen sind, bleiben aber in der Rückschau hoffentlich nicht nur diese düsteren Bilder. Bleiben sollten stattdessen die Bilder von Hunderten Freiwilligen, die bis zur Erschöpfung mit angepackt haben. Bleiben sollte das Bild des Brautpaars, das sich traute, statt Trauung Sandsäcke zu füllen und mit dem Radlader anzupacken. Bleiben sollte die Erinnerung daran, wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister mit Landrat Hans Reichhart und seinem Team an der Spitze für ihre Kommunen, ihren Landkreis gegen das Hochwasser kämpften. Bleiben sollte die Gewissheit, dass Nachbarn und Freunde ohne groß zu überlegen helfen – und das hoffentlich auch in Zukunft tun.
Für die Redaktionen von Zeitung und Nachrichten bleibt die Erinnerung an eine Teamaufgabe, die wir in dieser Form noch nie zu stemmen hatten – und hoffentlich auch nie wieder stemmen müssen. Auch uns hat dieses Wochenende an die Grenzen dessen gebracht, was wir leisten konnten. Drei Tage lang haben wir Nachrichten zusammengetragen, Fotografen koordiniert, Pegelstände beobachtet, Telefonate geführt und alle wichtigen Informationen so schnell wie möglich zu den Menschen gebracht. Dabei haben wir immer versucht, nicht nur das Schreckliche zu transportieren, sondern auch das zu zeigen, was Mut und Hoffnung macht. Der Teamgeist, der dabei geherrscht hat, ist das, woran wir uns erinnern werden.