Mikrophone im Brotteller
Estland Das Hotel Viru war einst das Juwel sowjetischer Luxushotellerie. Was keiner wissen sollte: Im 23. Stock saßen Spione. Ein Besuch im spannenden KGB-Museum
Der Techniker hatte plötzlich eine Pistole am Kopf
Im Telefon fehlt die Wählscheibe. Mit Gewalt wurde sie aus dem aufgebrochenen Plastikgehäuse gerissen. Aus Funkgeräten hängen abgetrennte Kabel. Auf dem Schreibtisch liegen Papiere, Stempel und eine Gasmaske neben einem übervollen Aschenbecher. Das Chaos zeugt vom überstürzten Aufbruch in einer kalten Frühlingsnacht des Jahres 1991.
Den zwölf KGB-Offizieren, die in der obersten Etage des eleganten Hotel Viru im Schichtdienst rund um die Uhr dem täglichen Einerlei des Abhörens fremder Gespräche nachgingen, war die Luft über den Dächern Tallinns zu dünn geworden. Die Sowjetunion zeigte bereits Auflösungserscheinungen. Vor allem an ihren Rändern war das spürbar. Am 3. März 1991 votierten die Bürger Estlands in einer Volksabstimmung für die Unabhängigkeit von Moskau. Zwar war das Referendum rechtlich nicht bindend. Doch die Offiziere ahnten, dass ihre Tage im Amt gezählt waren. Sie packten ein, was sie tragen konnten, zerstörten die Telefone und machten sich davon. Ihr Instinkt hatte nicht getrogen: Wenige Monate später, am 20. August 1991, erklärte Estland offiziell seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion; drei Tage später wurde der KGB, das Komitee für Staatssicherheit, verboten. Das Hotel am Altstadtrand schwieg dazu, als wäre nichts geschehen.
22 Etagen besaß das Hotel Viru, der Renommierbau der Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland. So wollte es die Partei. Nun konnte zwar jeder Bewohner Tallinns, wenn er sinnend vor dem Prunkbau stand, nachzählen, dass der ganz offensichtlich über dreiundzwanzig Stockwerke verfügte. Doch bekanntlich war das Leben im Sowjetreich voller Wunder.
Zu ihnen gehörte auch das glanzvolle Hotel selbst. In der 23. Etage unterhielt der KGB die Schaltzentrale, von der er die Überwachung von 80 der 500 Hotelzimmer sowie aller öffentlichen Räume vom Restaurant bis zur Sauna steuerte und auch die Angestellten im Blick behielt. Hinter einer Tür in der 22. Etage befand sich der Aufgang nach oben. All das gab es offiziell nicht, weshalb die Tür zu den Räumen der Geheimdienstler die überzeugende Aufschrift „Hier ist nichts“trug – in Estnisch und in Russisch.
Nachdem die Spione verschwunden waren, vergingen Jahre, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Zunächst wusste niemand so recht, was man mit dem Überbleibsel aus der Vergangenheit anfangen sollte, und schloss die nur über eine Treppe erreichbare Etage wieder ab. Im Jahr 2011 wurde die bis zum vollen Aschenbecher unverändert belassene Abhörzentrale dann zum Herzstück des womöglich einzigen KGBMuseums der Welt in einem Hotel.
Englischsprachige Guides lüften seither mehrmals täglich in meist ausverkauften Touren die Geheimnisse des ersten sowjetischen Varietés in der 22. Etage – heute der beliebte Club „Café Amigo“– und der in Lampen und Aschenbechern versteckten Mikrofone, die jedes Wort der Hotelgäste aus den öffentlichen Räumen in die 23. Etage übertrugen. Heute ist es die 1973 in Tallinn geborene Hotelangestellte Eva, die die Gruppe in den Aufzug nach oben schickt – und erzählt. Das besondere Interesse des KGB galt Politikern und Journalisten, aber auch prominenten Gästen wie Liz Taylor, Neil Armstrong und Nana Mouskouri.
Die Führung ist eine Zeitreise in eine von Paranoia geprägte Welt, in der kaum etwas war, wie es schien. Die Suche nach Beweisen war Selbstzweck, jeder grundsätzlich verdächtig. Dabei war das Leben in der sozialistischen Sowjetrepublik ohnehin fast zu schön, um wahr zu sein. Das Hotel Viru wurde sogar eigens als systemimmanente Parallelwelt erbaut, damit auch Ausländer bei Besuchen in Tallinn an den vermeintlichen Errungenschaften des Sowjetreichs teilhaben konnten.
Geld spielte schon beim Bau keine Rolle. Damit das Ganze auch halten würde, beauftragte man eine finnische Firma mit dem Bau. Die politisch neutralen Finnen hatten selbst den Anstoß zur Wiedergeburt des Tourismus gegeben. 1964 schlug ihr Präsident Urho Kekkonen bei einem Besuch vor, die durch die neue Weltordnung gekappte Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki wieder aufzunehmen. Finnen, die bis heute die größte Besuchergruppe der estnischen Kapitale stellen, mussten seinerzeit über St. Petersburg nach Tallinn reisen; ein lästiger Umweg, da die beiden Hauptstädte nur ein achtzig Kilometer langer Seeweg trennt. Die Nähe zur freien Welt war indessen auch der Grund, warum fast die gesamte estnische Küste Sperrgebiet war; sogar die Bewohner der meisten Inseln hatten aufs Festland übersiedeln müssen. Zu groß war die Angst, dass die glücklichen Sowjetbürger winters übers zugefrorene Meer entkommen würden. Dennoch ging bald nach dem Besuch des Präsidenten die erste Fähre aus Helsinki vor Anker. Allerdings fehlte ein Hotel, das den Ansprüchen westlicher Reisender genügen würde.
Drei Jahre brauchte die Baufirma aus dem Nachbarland, um gleich hinter der mittelalterlichen Stadtmauer Tallinns ersten Wolkenkratzer hochzuziehen. Im Jahr 1972 war nicht nur das Hotel fertig, es hatte auch jeder zehnte Bauarbeiter eine Estin geheiratet und in die Heimat mitgenommen – Schwund, den man wohl oder übel akzeptieren musste. Das Hotel aber blieb 20 Jahre lang eines der fünf besten im Sowjetreich und eine Perle der sowjetischen Reiseagentur Intourist.
Alle Ausländer sollten hier logieren, Devisen ins Land spülen und daheim vom Wohlleben in der sowjetischen Republik berichten; zugleich war es praktisch, sie alle auf einmal im Blick zu haben. Die 80 verwanzten Zimmer waren außer für Journalisten und Politiker auch für im Ausland lebende Esten reserviert, die Verwandte in der alten Heimat besuchten. 1000 Mitarbeiter hatte das Haus, das sich heute als Teil der finnischen Gruppe Sokos Hotels 250 Angestellte leistet. Schuhmacher und Schneider, Friseure und Spitzenköche täuschten im Hotel Überfluss vor, von dem in der Stadt niemand etwas mitbekam. Französischer Wein und amerikanische Zigaretten waren hier frei verfügbar, während sich die Menschen draußen mit der Rationierung von Kartoffeln, Mehl und Fleisch plagten. Reisegruppen aus dem Ausland wurden am Hafen abgeholt und ins Hotel gebracht. Nur Friseuren und Kellnern war es erlaubt, mit ihnen zu sprechen – niemals über Politik.
Denn in diesem Hotel blieb wenig ungehört. Ein Foto an der Wand des heutigen Museums zeigt eine Dame, die allein an einem Tischchen sitzt, vor sich eine Kladde mit Notizen und ein Telefon. Sie war einer der Etagenwarte, die in jedem Stockwerk ein Auge auf die Gäste hatten. Ein anderer Job, der Estlands Unabhängigkeit nicht überdauerte, war der des Zutatenauswiegers. Er sorgte dafür, dass jede Fleischportion genau 75 Gramm wog, wobei Hühnchen nach Kiewer Art einen Fleischanteil von 82 Gramm aufweisen musste. Auch beim Geschirr empfahl es sich, genau hinzuschauen. Führerin Eva zeigt einen Brotteller aus dem Restaurant, der niemals in die Spülmaschine durfte – in seinem doppelten Boden befindet sich ein Mikrofon.
Auch die Mitarbeiter befanden sich unter ständiger Beobachtung. Bevor ein Bewerber einen Job antreten konnte, wurde sein Hintergrund durchleuchtet. Hatte ein Aspirant auch nur einen im Ausland lebenden Cousin, war er draußen. Wer das Auswahlverfahren bestand, erhielt einen Stempel auf den Personalbogen: „Genehmigt.“Eva: „Das bedeutete: Wir wissen mehr über dich als du selbst.“
Damit sich das jeder gut merken konnte, gab es Tests. Ein unscheinbares Portemonnaie diente so als Charakterprüfung der Beschäftigten. Wer die Börse öffnete, den traf ein verräterischer roter Tintenstrahl. Die Folge war Strafversetzung auf einen niedrigeren Posten oder die Auflage, sich durch Beschaffung relevanter Informationen in besseres Licht zu rücken.Exponate wie die auf Puppen gespannten und auf einem Feldbett ausgebreiteten KGB-Uniformen in der einstigen Spionagezentrale dienen vor allem der Verdichtung der Atmosphäre, da die Offiziere zumeist in Zivil ihrer Arbeit nachgingen. Die Medaille, die Brotschneiderin Helga für ihren Dienst am Volk erhielt, ist ebenso ausgestellt wie eine diskret mit Holz verkleidete Antenne und Eintrittskarten fürs Varieté Viru. Vier Rubel kosteten die begehrten Tickets im Jahr 1975. Dafür erwarteten die Besucher – Hotelgäste, verdiente Einheimische und Parteifunktionäre aus Moskau – ein gewagtes, ideologisch zweifelhaftes Programm eines hochkarätigen Ensembles estnischer Tänzerinnen und Sängerinnen sowie auf jedem Tisch ein Mikrofon im Blumengesteck.
Eva erinnert sich an die Zeit, in der das Hotel als westliche Insel im sozialistischen Alltag normalen Leuten verschlossen und sogar die in Moskau festgelegten Zimmerpreise geheime Verschlusssache waren. „Damit bin ich aufgewachsen.“Manche Anekdote haben ihr ältere Kollegen erzählt. Legendär ist die Geschichte des Technikers, der eine defekte Telefonleitung reparieren sollte. Er drang ins Allerheiligste vor, spürte unversehens den Lauf einer Pistole am Kopf und suchte schnell das Weite. Allerdings erinnerte er sich später daran, Männer mit Kopfhörern gesehen zu haben – was im Hotel kaum für Überraschung sorgte. Nicht umsonst verband ein rotes Telefon ohne Wählscheibe das Büro des Managers – der für seinen Job das Geschick eines Botschafters und das Fingerspitzengefühl eines Herzchirurgen benötigte – mit dem KGB-Hauptquartier in der Altstadt, während ein zweites, metallgefülltes Sicherheit vor eingeschmuggelten Mikrofonen bot. Tourismus und Überwachung gehörten im Traumhotel Viru zusammen wie Hammer und Sichel.