Dem Ansehen der Demokratie dient diese Prozedur nicht
Die SPD-Mitglieder haben das letzte Wort über die Regierungsbildung. Wie aber steht es um das Recht der gewählten Abgeordneten, frei zu entscheiden?
Die Parteiführungen von CDU, CSU und SPD haben sich auf eine neue Regierung geeinigt. Die Abgeordneten der drei Parteien haben den Koalitionsvertrag durchgewunken und sind bereit, Angela Merkel wieder zur Kanzlerin zu wählen. Obwohl also alles angerichtet ist für die neue Koalition, muss Deutschland – zur Verwunderung ganz Europas – weiter auf eine handlungsfähige Regierung warten. Das letzte Wort über den Ausgang der Hängepartie nämlich hat die SPD wie schon 2013 ihren Mitgliedern überlassen. In deren Hand liegt es nun, ob die Regierungsbildungskrise nach einem halben Jahr endlich überwunden wird. Sagt die SPD mit Mehrheit Nein, sind Neuwahlen unausweichlich – mitsamt dem Risiko länger andauernder instabiler Verhältnisse und einer Verschärfung der Vertrauenskrise des parlamentarischen Systems. Es steht also viel auf dem Spiel bei diesem Mitgliederentscheid – nicht nur die Zukunft einer Volkspartei, sondern auch das Zutrauen der Menschen in die Fähigkeit der etablierten Parteien, auch in einer veränderten politischen Landschaft für stabile Verhältnisse sorgen zu können.
Gemessen an der weitreichenden staatspolitischen Bedeutung dieser Befragung muten einige Begleitumstände recht skurril an. Wer ein paar Euro („Tritt ein, sag Nein“) investiert, darf mitmachen – man muss dazu weder 18 sein, noch einen deutschen Pass haben. So befremdlich dies anmuten mag: Der Kern des Problems liegt ganz woanders. Erstens stellt sich die Frage, warum 463723 Parteimitglieder über das Zustandekommen einer neuen Regierung entscheiden sollen. Sie können nicht für die 9,5 Millionen SPD-Wähler und schon gar nicht für die 46 Millionen Wähler stimmen, die eine schwarz-rote Mehrheit im Bundestag ermöglicht haben. Und zweitens, viel gravierender: Das Recht, eine Regierung zu wählen, steht nur den vom Volk gewählten Abgeordneten zu.
Ja, Parteien führen die Koalitionsverhandlungen und können festlegen, wie sie über eine Regierungsbeteiligung entscheiden. Die SPD bindet alle Mitglieder ein, die CDU beruft einen Sonderparteitag ein, der CSU reicht ein Vorstandsbeschluss. Und Karlsruhe akzeptiert die „politische Einbindung der Abgeordneten in Partei und Fraktion“. So besehen ist alles in Ordnung – auf den ersten Blick. Auf den zweiten jedoch zeigt sich, dass ein Mitgliederentscheid über eine Regierungsbeteiligung die repräsentative Demokratie aushebelt. Abgeordnete sind „weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden“, wie es im Grundgesetz heißt. Sie sind keine Vollstrecker des Parteiwillens. Bei der Wahl einer Regierung zählen nur die Stimmen der Abgeordneten. Sie, und nicht die Mitglieder oder Delegierten einer Partei, sind vom Volk gewählt.
Mit dem „freien Mandat“ist es bekanntlich in der Praxis nicht weit her. Die Parteien, die an der Willensbildung des Volkes nur „mitwirken“sollen, überdehnen ihren Auftrag. Was wie der Mitgliederentscheid urdemokratisch daherkommt, verstößt gegen das demokratische System und zeugt vom grenzenlosen Machtanspruch der Parteien. Volks- und Mitgliederentscheide sind sinnvoll, wenn es um Sachfragen oder die Urwahl eines Parteichefs geht. Über die Wahl einer Bundesregierung haben nur Abgeordnete zu befinden.
Das Prozedere der SPD mag verfassungsrechtlich zulässig, die Kritik daran theoretisch klingen: Dem Ansehen des demokratischen Systems dient es nicht, wenn eine verschwindend kleine Minderheit über Regierungen entscheidet. Und wenn dies alles Schule machen sollte, dann werden Regierungsbildungen demnächst noch schwieriger, nervtötender und rufschädigender für das Parteiensystem.
Die Parteien überdehnen ihren Machtanspruch