Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (3)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Zwar hatten wir mit dieser jüngsten Verschwörung gegen Tommy nichts zu tun, aber immerhin hatten wir von der ersten Reihe aus zugesehen und begannen uns schuldig zu fühlen. Doch es war nirgends ein Aufseher in Sicht, so dass wir uns ein-fach weiterhin Gründe aufzählten, weshalb Tommy das verdient habe, was er jetzt erhielt. Als Ruth schließlich mit einem Blick auf die Uhr sagte, es sei zwar noch Zeit, aber wir sollten doch lieber jetzt schon zum Haupthaus zurückgehen, erhob niemand einen Einwand.
Tommy tobte immer noch, als wir aus dem Pavillon traten. Das Haupthaus befand sich links von uns, und da Tommy in gerader Linie vor uns auf der Wiese stand, brauchten wir nicht weiter in seine Nähe zu kommen. Ohnehin drehte er uns den Rücken zu und nahm uns offensichtlich gar nicht wahr. Dennoch zog es mich zu ihm hinüber, während meine Freundinnen am Rand des Spielfelds entlanggingen. Ich wusste, dass die anderen sich wundern würden, aber ich ging weiter – auch als Ruth in meinem Rücken zischelte, ich solle zurückkommen.
Wahrscheinlich war es Tommy nicht gewöhnt, in seinen Tobsuchtsanfällen gestört zu werden, denn als ich bei ihm war, starrte er mich nur eine Sekunde lang an und machte dann weiter wie zuvor. Es war tatsächlich, als arbeitete er gerade an einer Shakespeare-Szene und als wäre ich mitten in die Probe geplatzt. Auch als ich sagte: „Tommy, dein schönes Hemd. Es wird ganz schmutzig“, hatte ich nicht den Eindruck, dass er mich hörte.
Also streckte ich die Hand aus und wollte sie ihm auf den Arm legen. Seine Arme fuchtelten wild herum, und er konnte nicht wissen, dass ich in diesem Moment die Hand ausstreckte. Die anderen dachten später, er hätte es absichtlich getan, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es ein Versehen war: Als er einen Arm in die Höhe warf, stieß er meine Hand beiseite und traf mich an der Wange. Es tat überhaupt nicht weh, aber ich schnappte nach Luft, und die meisten Mädchen hinter mir ebenfalls.
In dem Augenblick schien Tommy mich endlich zu bemerken, mich, die anderen, sich selbst und die ganze Situation – dass er hier auf der Wiese stand und sich aufführte wie von Sinnen –, und er starrte mich ein bisschen einfältig an.
„Tommy“, sagte ich in ziemlich strengem Ton. „Dein Hemd ist voller Dreck.“
„Na und?“, murrte er. Aber im selben Moment blickte er an sich hinunter, entdeckte die braunen Spritzer und unterdrückte gerade noch einen Aufschrei des Entsetzens. Dann sah ich die Überraschung in seinem Gesicht, als ihm dämmerte, dass ich um seine Gefühle für sein Polohemd wusste.
„Keine Angst, so schlimm ist das nicht“, sagte ich, bevor das Schweigen demütigend für ihn wurde. „Der Schmutz wird wieder rausgehen. Wenn du’s selber nicht sauber kriegst, bringst du’s einfach zu Miss Jody.“
Er musterte noch eine Weile sein Hemd und sagte mürrisch: „Dir kann es doch sowieso egal sein.“
Die letzte Bemerkung tat ihm offensichtlich gleich wieder Leid, denn er sah mich verlegen an, als erwartete er eine tröstende Antwort von mir. Aber ich hatte jetzt genug von ihm, zumal uns die Mädchen die ganze Zeit beobachteten – und wahrscheinlich nicht nur sie, sondern von den Fenstern des Haupthauses auch noch etliche andere Schüler. Also wandte ich mich mit einem Achselzucken ab und kehrte zu meinen Freundinnen zurück.
Ruth legte mir einen Arm um die Schultern, während wir davongingen. „Zumindest hast du’s geschafft, dass er sich wieder abregt“, sagte sie. „Alles in Ordnung mit dir? Wahnsinniges Tier.“
Kapitel 2
Das alles liegt schon lang zurück, und vielleicht irre ich mich ja in manchem; aber dass ich an diesem Nachmittag auf Tommy zuging, gehört nach meiner Erinnerung in eine Phase, in der ich zwanghaft nach Herausforderungen suchte. Ich hatte alles schon mehr oder weniger vergessen, als Tommy mich ein paar Tage später aufhielt.
Ich weiß nicht, wie es dort war, wo Sie aufwuchsen, aber in Hailsham mussten wir beinahe jede Woche die eine oder andere ärztliche Untersuchung über uns ergehen lassen, für gewöhnlich in Zimmer 18 ganz oben im Dachgeschoß. An diesem sonnigen Morgen stieg die eine Gruppe die Haupttreppe hinauf, um sich von der strengen Schwester Trisha – Krähengesicht, wie wir sie nannten – untersuchen zu lassen, während eine andere Gruppe, die zuvor an der Reihe gewesen war, die Treppe herunter kam. Der Lärm hallte durchs ganze Treppenhaus. Ich ging mit gesenktem Kopf die Stufen hinauf, folgte einfach den Füßen vor mir, als mich eine Stimme ganz in der Nähe anrief: „Kath!“
Tommy, der mir in der Gruppe von oben entgegen kam, blieb mitten auf der Treppe stehen. Sein breites offenes Grinsen ärgerte mich sofort. Ein paar Jahre früher hatten wir diese Miene aufgesetzt, wenn wir uns freuten, jemanden zu treffen, den wir mochten. Aber inzwischen waren wir dreizehn, und unsere Begegnung spielte sich dazu noch vor aller Augen ab. Am liebsten hätte ich gesagt: „Tommy, kannst du nicht allmählich mal erwachsen werden?“Aber ich riss mich zusammen und sagte stattdessen: „Tommy, du hältst alle auf. Und ich steh jetzt ebenfalls im Weg.“Er blickte nach oben, und tatsächlich war die Abwärtsbewegung hinter ihm schon ins Stocken geraten. Eine Sekunde schien er in panischem Schrecken befangen zu sein, dann drückte er sich neben mich an die Wand, so dass die Schüler sich mit Mühe an ihm vorbeizwängen konnten.
„Kath, ich hab dich überall gesucht. Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid. Ehrlich, ich wollte dich neulich nicht schlagen. Es fällt mir doch nicht im Traum ein, ein Mädchen zu schlagen, und dich am allerwenigsten. Es tut mir wirklich furchtbar Leid.“
„Schon gut. Ich weiß, dass es keine Absicht war.“Ich nickte ihm zu und wollte weitergehen. Aber Tommy sagte: „Das Hemd ist wieder ganz in Ordnung. Es ist alles rausgegangen.“
„Das freut mich.“
„Ich hab dir nicht wehgetan, oder? Als ich dich geschlagen habe?“
„Doch. Schädelbruch, Gehirnerschütterung, das volle Programm. Sogar Krähengesicht dürfte es merken. Das heißt, falls ich überhaupt je zu ihr raufkomme.“
„Im Ernst, Kath. Nichts für ungut, ja? Es tut mir schrecklich Leid. Ganz ehrlich.“Schließlich lächelte ich ihn an und sagte, diesmal ohne Ironie: „Schau, Tommy, es war ein Versehen, und jetzt ist es hundertprozentig vergessen. Ich bin dir überhaupt nicht böse.“Sein Gesichtsausdruck verriet immer noch Zweifel, aber ein paar Ältere hinter ihm begannen zu drängeln und forderten ihn auf, weiterzugehen. »4. Fortsetzung folgt