„Mit einem einheitlichen Garantiebetrag alle Kinder unterstützen“
Bundesfamilienministerin Lisa Paus will mit der Kindergrundsicherung bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen
- Die Pläne der Ampel-Koalition für die sogenannte Kindergrundsicherung werden konkreter. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) strebt für Herbst 2023 einen fertigen Gesetzentwurf an. Ziel der Reform ist es, dass Familien künftig einfacher von Leistungen profitieren können, die sie bislang wegen Unkenntnis oder bürokratischer Hürden in vielen Fällen gar nicht erst beantragen, wie sie im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“sagt. Den fertigen Gesetzentwurf müssten ab Herbst sowohl Bundestag als auch Bundesrat absegnen. Das könne sich bis 2024 hinziehen. Erste Auszahlungen strebe die Bundesregierung ab 2025 an.
Frau Paus, wir haben nachgezählt: In den vergangenen fünf Jahren gab es fünf Familienministerinnen – natürlich jeweils mit ihren eigenen Vorstellungen. Sehen Sie einen roten Faden und, wenn ja, welchen?
Mit der Tradition des schnellen Ministerinnen-Wechsels möchte ich brechen – es gab ja ohnehin sehr unterschiedliche Gründe dafür. Ich bin gekommen, um zu bleiben. Das Familienministerium ist das Ministerium, das sich vor allem um den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft kümmert, sozusagen das Gesellschaftsministerium. Da muss jemand an der Spitze des Hauses sein, der dieses Thema mit Nachdruck in alle Debatten einbringt. Darin sehe ich die zentrale Aufgabe als Ministerin.
Ein wichtiges Thema für jede Ministerin war der Kampf gegen Kinderarmut. Wird sich durch die Folgen des Krieges in der Ukraine die Kinderarmut in Deutschland verschärfen?
Wir befinden uns in einer Zeit der Krisen. Die Bundesregierung hat bereits drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht. Auch die Strom- und Gaspreisbremsen helfen Familien. Ich habe auch hart und erfolgreich dafür gekämpft, dass das Kindergeld ab Januar 2023 auf 250 Euro pro Kind angehoben wird. Das durchzusetzen, war alles andere als selbstverständlich.
Aus Hartz IV wird das Bürgergeld: Reichen die neuen Regelsätze für Kinder und auch für ihre Eltern im kommenden Jahr tatsächlich aus?
Mit dem Bürgergeld steigen auch die Regelsätze für Kinder spürbar an. Denn wir haben im Bürgergeld einen Inflationsausgleich auch für die kommenden Monate verankert, damit die Menschen von den hohen Preisen nicht überfordert werden. Dafür haben wir eine Inflationsprognose zugrunde gelegt. Wir werden die Situation der ärmeren Familien auch im nächsten Jahr genau im Blick behalten und, wenn nötig, nachsteuern.
Was bedeutet das konkret?
Wenn die Inflation stärker zuschlägt als angenommen, müssen wir reagieren. Diese Bundesregierung hat bewiesen, dass sie schnell hilft, wenn es die aktuelle Entwicklung notwendig macht. Wir lassen die Familien nicht im Stich.
Wie schaut es bei Familien aus, die von geringen Einkommen leben müssen? Der Mindestlohn von zwölf Euro ist wegen der Inflation nicht mehr das wert, was die Am
pel-Koalition erhofft hat. Muss er schnell steigen?
Wir haben den Mindestlohn schon einmalig erhöht – auf zwölf Euro. Jetzt ist wieder die Mindestlohnkommission am Zug. Ich bin sicher, dass sie die Entwicklung der Tariflöhne genau beobachtet und darauf reagieren wird.
Wenn doch das Bürgergeld die große Sozialreform ist, als die sie uns von der Ampel verkauft wird, warum brauchen wir denn dann überhaupt
noch die Kindergrundsicherung?
Das Bürgergeld ist die Überwindung von Hartz IV. Die Kindergrundsicherung wird das große sozialpolitische Vorhaben für alle Kinder und Familien sein. Dafür werden wir unterschiedliche Familienleistungen zusammenführen und mit einem einheitlichen Garantiebetrag alle Kinder unterstützen. Ein einkommensabhängiger Zusatzbetrag kommt für Familien, die kein oder nur wenig Einkommen haben, obendrauf. Vor allem
Alleinerziehende und ihre Kinder sind in Gefahr, in Armut abzurutschen. Da hat die Gesellschaft zu lange weggeschaut. Mit der Kindergrundsicherung sollen alle Kinder die Leistungen erhalten, die ihnen zustehen.
Das heißt, Sie legen nicht nur Leistungen zusammen, sondern es gibt hinterher auch mehr Geld?
Unser Ziel bei der Kindergrundsicherung ist, dass das sozioökonomische Existenzminimum auf jeden Fall abgesichert ist. Das klingt technisch, aber es bedeutet: Es muss nicht nur der Lebensunterhalt der Kinder gesichert sein, sondern es geht auch um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Bislang gibt es viele Familien, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht alle Leistungen in Anspruch nehmen, zu denen sie berechtigt sind. Das Entscheidende an der Kindergrundsicherung wird sein, dass sie sicherstellt, dass die Kinder tatsächlich die Unterstützung erhalten, die ihnen zusteht. Das kostet, aber es lohnt sich für die gesamte Gesellschaft.
Warum?
Es ist ungerecht, gesamtgesellschaftlich falsch und ökonomisch unvernünftig, Kinder zurückzulassen und ihnen nicht die Chancen zu geben, ihre Begabungen und Potenziale zu entfalten. Die Kindergrundsicherung wird mit dieser Unvernunft brechen. Ich werde deshalb um jeden zusätzlichen Euro für die Kindergrundsicherung kämpfen. Das ist klar. Aber wir müssen gleichzeitig auch in die Kinderbetreuung investieren. Dabei müssen wir den demografischen Wandel im Blick haben, aber auch die Qualität der Betreuung. Wir brauchen jede Fachkraft.
Warum braucht die Reform so lange?
Es gibt vermutlich wenige Dinge in Deutschland, die so kompliziert sind, wie mehrere staatliche Leistungen zusammenzubringen – über zahlreiche Ministerien und Behörden hinweg. Außerdem wollen wir, dass die Leistung unkompliziert und automatisch über ein Digitalportal ausgezahlt wird.
Wann ist es so weit?
Ich bin fest entschlossen, dass wir bis Ende kommenden Jahres einen Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung vorlegen. Wir werden diese Leistung noch in dieser Legislaturperiode im Jahr 2025 auszahlen.
Die Ampel ist als selbst ernannte Fortschrittskoalition angetreten. So richtig voran scheint es aber bei den Reformen derzeit nicht zu gehen. Liegt es daran, dass die AmpelPartner vor allem damit beschäftigt sind, die verschiedenen Krisen in den Griff zu bekommen?
Wir haben trotz der Krisenpolitik viele Vorhaben wie das Kita-Qualitätsgesetz oder das Demokratiefördergesetz oder auch das Chancenaufenthaltsrecht gemeinsam umgesetzt. Wir haben den Paragrafen 219a, also das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Wir haben Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt, das den Wechsel der Geschlechtsangabe bei den Meldeämtern erleichtert. Ich verstehe die Ungeduld und ich verspüre sie auch selbst. Aber um noch mal auf die Kindergrundsicherung zurückzukommen: Hier sagen auch Expertinnen und Experten, dass unser Zeitplan angesichts der Größe des Projekts ehrgeizig ist. Das ist ein sehr komplexes Vorhaben, bei dem wir mit sechs Ressorts zusammenarbeiten. Dazu kommen die technischen Herausforderungen für die automatisierte Auszahlung. Das alles muss bis 2025 fehlerfrei funktionieren.
Es gibt Reformen, die auf sich warten lassen. Zum Beispiel wollten Sie das Abstammungsrecht so ändern, dass lesbische Partnerinnen sich als Mit-Mutter eines Kindes eintragen lassen können. Wann ist damit zu rechnen?
Bezüglich der Abstammungsrechtsreform liegt in der Tat noch kein Gesetzentwurf für die rechtliche Anerkennung von lesbischen Müttern vor. Die Federführung liegt hier bei Bundesjustizminister Buschmann. Aber wir sind dran. Denn es wird Zeit, diese Ungerechtigkeit und die Unsicherheit für diese Familien endlich zu beenden. Das alles wollen wir im kommenden Jahr angehen.
Der zehntägige bezahlte Vaterschaftsurlaub soll sogar erst 2024 kommen …
Wir brauchen die bezahlte Freistellung des Partners oder der Partnerin für die Zeit direkt nach der Geburt, das ist klar. Urlaub würde ich das nicht nennen. Es ist eine wichtige und intensive Zeit. Die Freistellung hilft jungen Familien, ihre Wünsche nach partnerschaftlicher Aufgabenteilung zu verwirklichen. Allerdings ist die wirtschaftliche Lage derzeit schwierig, vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. Deshalb haben wir uns in der Koalition entschlossen, diese Reform so anzugehen, dass sie für die Unternehmen gut planbar ist. Die zehntägige Freistellung nach der Geburt werden wir deshalb erst im nächsten Jahr vorbereiten, sie soll dann 2024 in Kraft treten.
Sie sind Ministerin für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, aber insbesondere auch für Familien. Die Definition dessen, was Familie ist, ändert sich immer wieder. Was verstehen Sie selbst unter Familie?
Familie ist überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, sei es für Partnerinnen und Partner, Kinder oder pflegebedürftige Angehörige.