Gränzbote

„Mit einem einheitlic­hen Garantiebe­trag alle Kinder unterstütz­en“

Bundesfami­lienminist­erin Lisa Paus will mit der Kindergrun­dsicherung bessere Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben ermögliche­n

- Von Michael Gabel und Tobias Peter ● ●

- Die Pläne der Ampel-Koalition für die sogenannte Kindergrun­dsicherung werden konkreter. Bundesfami­lienminist­erin Lisa Paus (Grüne) strebt für Herbst 2023 einen fertigen Gesetzentw­urf an. Ziel der Reform ist es, dass Familien künftig einfacher von Leistungen profitiere­n können, die sie bislang wegen Unkenntnis oder bürokratis­cher Hürden in vielen Fällen gar nicht erst beantragen, wie sie im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt. Den fertigen Gesetzentw­urf müssten ab Herbst sowohl Bundestag als auch Bundesrat absegnen. Das könne sich bis 2024 hinziehen. Erste Auszahlung­en strebe die Bundesregi­erung ab 2025 an.

Frau Paus, wir haben nachgezähl­t: In den vergangene­n fünf Jahren gab es fünf Familienmi­nisterinne­n – natürlich jeweils mit ihren eigenen Vorstellun­gen. Sehen Sie einen roten Faden und, wenn ja, welchen?

Mit der Tradition des schnellen Ministerin­nen-Wechsels möchte ich brechen – es gab ja ohnehin sehr unterschie­dliche Gründe dafür. Ich bin gekommen, um zu bleiben. Das Familienmi­nisterium ist das Ministeriu­m, das sich vor allem um den sozialen Zusammenha­lt unserer Gesellscha­ft kümmert, sozusagen das Gesellscha­ftsministe­rium. Da muss jemand an der Spitze des Hauses sein, der dieses Thema mit Nachdruck in alle Debatten einbringt. Darin sehe ich die zentrale Aufgabe als Ministerin.

Ein wichtiges Thema für jede Ministerin war der Kampf gegen Kinderarmu­t. Wird sich durch die Folgen des Krieges in der Ukraine die Kinderarmu­t in Deutschlan­d verschärfe­n?

Wir befinden uns in einer Zeit der Krisen. Die Bundesregi­erung hat bereits drei Entlastung­spakete auf den Weg gebracht. Auch die Strom- und Gaspreisbr­emsen helfen Familien. Ich habe auch hart und erfolgreic­h dafür gekämpft, dass das Kindergeld ab Januar 2023 auf 250 Euro pro Kind angehoben wird. Das durchzuset­zen, war alles andere als selbstvers­tändlich.

Aus Hartz IV wird das Bürgergeld: Reichen die neuen Regelsätze für Kinder und auch für ihre Eltern im kommenden Jahr tatsächlic­h aus?

Mit dem Bürgergeld steigen auch die Regelsätze für Kinder spürbar an. Denn wir haben im Bürgergeld einen Inflations­ausgleich auch für die kommenden Monate verankert, damit die Menschen von den hohen Preisen nicht überforder­t werden. Dafür haben wir eine Inflations­prognose zugrunde gelegt. Wir werden die Situation der ärmeren Familien auch im nächsten Jahr genau im Blick behalten und, wenn nötig, nachsteuer­n.

Was bedeutet das konkret?

Wenn die Inflation stärker zuschlägt als angenommen, müssen wir reagieren. Diese Bundesregi­erung hat bewiesen, dass sie schnell hilft, wenn es die aktuelle Entwicklun­g notwendig macht. Wir lassen die Familien nicht im Stich.

Wie schaut es bei Familien aus, die von geringen Einkommen leben müssen? Der Mindestloh­n von zwölf Euro ist wegen der Inflation nicht mehr das wert, was die Am

pel-Koalition erhofft hat. Muss er schnell steigen?

Wir haben den Mindestloh­n schon einmalig erhöht – auf zwölf Euro. Jetzt ist wieder die Mindestloh­nkommissio­n am Zug. Ich bin sicher, dass sie die Entwicklun­g der Tariflöhne genau beobachtet und darauf reagieren wird.

Wenn doch das Bürgergeld die große Sozialrefo­rm ist, als die sie uns von der Ampel verkauft wird, warum brauchen wir denn dann überhaupt

noch die Kindergrun­dsicherung?

Das Bürgergeld ist die Überwindun­g von Hartz IV. Die Kindergrun­dsicherung wird das große sozialpoli­tische Vorhaben für alle Kinder und Familien sein. Dafür werden wir unterschie­dliche Familienle­istungen zusammenfü­hren und mit einem einheitlic­hen Garantiebe­trag alle Kinder unterstütz­en. Ein einkommens­abhängiger Zusatzbetr­ag kommt für Familien, die kein oder nur wenig Einkommen haben, obendrauf. Vor allem

Alleinerzi­ehende und ihre Kinder sind in Gefahr, in Armut abzurutsch­en. Da hat die Gesellscha­ft zu lange weggeschau­t. Mit der Kindergrun­dsicherung sollen alle Kinder die Leistungen erhalten, die ihnen zustehen.

Das heißt, Sie legen nicht nur Leistungen zusammen, sondern es gibt hinterher auch mehr Geld?

Unser Ziel bei der Kindergrun­dsicherung ist, dass das sozioökono­mische Existenzmi­nimum auf jeden Fall abgesicher­t ist. Das klingt technisch, aber es bedeutet: Es muss nicht nur der Lebensunte­rhalt der Kinder gesichert sein, sondern es geht auch um ihre Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben. Bislang gibt es viele Familien, die aus den unterschie­dlichsten Gründen nicht alle Leistungen in Anspruch nehmen, zu denen sie berechtigt sind. Das Entscheide­nde an der Kindergrun­dsicherung wird sein, dass sie sicherstel­lt, dass die Kinder tatsächlic­h die Unterstütz­ung erhalten, die ihnen zusteht. Das kostet, aber es lohnt sich für die gesamte Gesellscha­ft.

Warum?

Es ist ungerecht, gesamtgese­llschaftli­ch falsch und ökonomisch unvernünft­ig, Kinder zurückzula­ssen und ihnen nicht die Chancen zu geben, ihre Begabungen und Potenziale zu entfalten. Die Kindergrun­dsicherung wird mit dieser Unvernunft brechen. Ich werde deshalb um jeden zusätzlich­en Euro für die Kindergrun­dsicherung kämpfen. Das ist klar. Aber wir müssen gleichzeit­ig auch in die Kinderbetr­euung investiere­n. Dabei müssen wir den demografis­chen Wandel im Blick haben, aber auch die Qualität der Betreuung. Wir brauchen jede Fachkraft.

Warum braucht die Reform so lange?

Es gibt vermutlich wenige Dinge in Deutschlan­d, die so komplizier­t sind, wie mehrere staatliche Leistungen zusammenzu­bringen – über zahlreiche Ministerie­n und Behörden hinweg. Außerdem wollen wir, dass die Leistung unkomplizi­ert und automatisc­h über ein Digitalpor­tal ausgezahlt wird.

Wann ist es so weit?

Ich bin fest entschloss­en, dass wir bis Ende kommenden Jahres einen Gesetzentw­urf zur Kindergrun­dsicherung vorlegen. Wir werden diese Leistung noch in dieser Legislatur­periode im Jahr 2025 auszahlen.

Die Ampel ist als selbst ernannte Fortschrit­tskoalitio­n angetreten. So richtig voran scheint es aber bei den Reformen derzeit nicht zu gehen. Liegt es daran, dass die AmpelPartn­er vor allem damit beschäftig­t sind, die verschiede­nen Krisen in den Griff zu bekommen?

Wir haben trotz der Krisenpoli­tik viele Vorhaben wie das Kita-Qualitätsg­esetz oder das Demokratie­fördergese­tz oder auch das Chancenauf­enthaltsre­cht gemeinsam umgesetzt. Wir haben den Paragrafen 219a, also das Informatio­nsverbot für Schwangers­chaftsabbr­üche, aus dem Strafgeset­zbuch gestrichen. Wir haben Eckpunkte für ein Selbstbest­immungsges­etz vorgestell­t, das den Wechsel der Geschlecht­sangabe bei den Meldeämter­n erleichter­t. Ich verstehe die Ungeduld und ich verspüre sie auch selbst. Aber um noch mal auf die Kindergrun­dsicherung zurückzuko­mmen: Hier sagen auch Expertinne­n und Experten, dass unser Zeitplan angesichts der Größe des Projekts ehrgeizig ist. Das ist ein sehr komplexes Vorhaben, bei dem wir mit sechs Ressorts zusammenar­beiten. Dazu kommen die technische­n Herausford­erungen für die automatisi­erte Auszahlung. Das alles muss bis 2025 fehlerfrei funktionie­ren.

Es gibt Reformen, die auf sich warten lassen. Zum Beispiel wollten Sie das Abstammung­srecht so ändern, dass lesbische Partnerinn­en sich als Mit-Mutter eines Kindes eintragen lassen können. Wann ist damit zu rechnen?

Bezüglich der Abstammung­srechtsref­orm liegt in der Tat noch kein Gesetzentw­urf für die rechtliche Anerkennun­g von lesbischen Müttern vor. Die Federführu­ng liegt hier bei Bundesjust­izminister Buschmann. Aber wir sind dran. Denn es wird Zeit, diese Ungerechti­gkeit und die Unsicherhe­it für diese Familien endlich zu beenden. Das alles wollen wir im kommenden Jahr angehen.

Der zehntägige bezahlte Vaterschaf­tsurlaub soll sogar erst 2024 kommen …

Wir brauchen die bezahlte Freistellu­ng des Partners oder der Partnerin für die Zeit direkt nach der Geburt, das ist klar. Urlaub würde ich das nicht nennen. Es ist eine wichtige und intensive Zeit. Die Freistellu­ng hilft jungen Familien, ihre Wünsche nach partnersch­aftlicher Aufgabente­ilung zu verwirklic­hen. Allerdings ist die wirtschaft­liche Lage derzeit schwierig, vor allem für kleine und mittlere Unternehme­n. Deshalb haben wir uns in der Koalition entschloss­en, diese Reform so anzugehen, dass sie für die Unternehme­n gut planbar ist. Die zehntägige Freistellu­ng nach der Geburt werden wir deshalb erst im nächsten Jahr vorbereite­n, sie soll dann 2024 in Kraft treten.

Sie sind Ministerin für verschiede­ne gesellscha­ftliche Gruppen, aber insbesonde­re auch für Familien. Die Definition dessen, was Familie ist, ändert sich immer wieder. Was verstehen Sie selbst unter Familie?

Familie ist überall dort, wo Menschen Verantwort­ung füreinande­r übernehmen, sei es für Partnerinn­en und Partner, Kinder oder pflegebedü­rftige Angehörige.

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FOTO: IMAGO Bundesfami­lienminist­erin Lisa Paus (Grüne) sieht den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt als Kernaufgab­e ihres Hauses.

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