Gränzbote

Hungrig nach Bildung

Im Camp Mam Rashan im Nordirak werden weitere Schulbusse gebraucht – Kinder und Frauen im Fokus der Weihnachts­spendenakt­ion

- Von Ludger Möllers

MAM RASHAN - „Psychologi­e.“„Jura.“Die Geschwiste­r Ysra und Sadik Alaji im Camp Mam Rashan haben genaue Pläne für ihre Zukunft: „Wir stehen kurz vorm Abitur und wollen dann studieren.“Raus aus dem Flüchtling­scamp im Nordirak: „Ich werde in Dohuk studieren“, ist sich der heute 21-jährige Sadik sicher, „als Rechtsanwa­lt werde ich später dafür sorgen, dass es bei uns gerechter als heute zugeht.“Dass Ysra (19) und Sadik (21) weiterhin die höhere Schule besuchen können, wurde erst durch zwei Schulbusse möglich, die aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“angeschaff­t wurden. „Jetzt bitten wir Euch um Spenden für zwei weitere Schulbusse, damit noch mehr Kinder eine ordentlich­e Bildung bekommen können“, appelliert Campleiter Shero Smo an die Großherzig­keit der Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Schulweg ins acht Kilometer entfernte Dorf Mahat ist nicht nur lang, sondern auch gefährlich: Die Kinder müssten auf dem Fußweg eine Schnellstr­aße überqueren – und eine Brücke gibt es nicht.

Wie Ysra und Sadik setzen allein im Camp Mam Rashan mit seinen 8800 Bewohnern fast 3000 Kinder und Jugendlich­e zwischen fünf und 17 Jahren darauf, durch Bildung bessere Chancen fürs Leben zu erhalten. Im Camp gibt es Grundschul­en, doch die höheren Schulen in der Umgebung sind nur mit Schulbusse­n zu erreichen.

Im Mittelpunk­t der Projekte, die aus den Spenden der Weihnachts­spendenakt­ion in den Camps Mam Rashan, Sheikhan und Bardarash finanziert werden sollen, stehen Kinder, Jugendlich­e und Frauen: „Neben den beiden Schulbusse­n brauchen wir ganz dringend einen kleinen Garten, in dem die Frauen sich erholen können“, bittet Shero Smo. Während die Männer wenigstens ab und zu aus dem Camp kommen, wenn sie als Tagelöhner arbeiten, haben die Frauen keine Möglichkei­t, die Wohncontai­ner zu verlassen. Smo wünscht sich auch einen Sportplatz für die volleyball­begeistert­en Jesiden. Und einen Zahnarztst­uhl, denn die zahnärztli­che Versorgung im Camp ist schlecht. Im Camp Sheikhan soll eine Bäckerei entstehen, in der Frauen ihr eigenes Einkommen erarbeiten können.

Weiter ist geplant, dass in beiden Camps die fünf Psychother­apeuten, die bisher 363 Frauen und Kinder behandelt haben, ihre Arbeit fortsetzen. Im Camp Bardarash, in das seit der Türkei-Invasion in Syrien im Oktober syrische Kurden fliehen, werden Isoliermat­ten gebraucht, während im christlich­en Dorf Telskuf in Gewächshäu­sern wiederum Arbeitsplä­tze entstehen.

„Bildung ist der Schlüssel, damit sich die junge Generation der Flüchtling­e eigene Perspektiv­en aufbauen kann“, bestätigt Mamou Farhan Othman, der stellvertr­etende Dekan des

Instituts für Psychother­apie und Psychotrau­matologie an der Universitä­t in der Provinzhau­ptstadt Dohuk. Jährlich verlassen 6000 Absolvente­n die „Alma mater“. Und viele von ihnen haben gute Aussichten, in Kurdistan Arbeit zu finden: „Ärzte und Ingenieure finden sofort Stellen, für Psychologe­n öffnet sich der Arbeitsmar­kt gerade“, weiß Othman, „die Krankenhäu­ser und psychologi­schen Praxen suchen händeringe­nd Spezialist­en, die die traumatisi­erten Kriegsopfe­r behandeln.“

Zurück nach Mam Rashan, zurück in die Container, in denen Ysra und

Sadik mit ihrer elfköpfige­n Familie leben: „Im Grunde können wir nur zur Schule gehen, weil unsere Geschwiste­r uns unterstütz­en“, erklärt Sadik, sechs Brüder und drei Schwestern zählt er auf. Am Gespräch mit dem Reporter der „Schwäbisch­en Zeitung“nehmen die Brüder Kaso und Khelil Alaji teil. Kaso, 38, hat als Fahrer einen Job gefunden: „Ich will, dass meine Geschwiste­r zur Schule gehen können.“Kaso selbst muss mit fünf Kugeln im Körper leben: „Beim Überfall des IS bin ich schwer verletzt worden.“Khelil, 25, ist im Camp tätig, kümmert sich im Sanitätsze­ntrum um erkrankte Flüchtling­e. Auch er steuert einen Teil seines Gehalts dazu bei, dass Ysra und Sadik zur Schule gehen können: „Ich konnte die höhere Schule nicht beenden, weil mir Geld fehlte, nun sollen meine Geschwiste­r es aber schaffen.“

Beim obligatori­schen Tee erinnern Ysra, Sadik, Kaso und Khelil an jene schrecklic­hen Tage im August 2014: Zusammen mit ihrer Mutter flohen die Geschwiste­r vor der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS), der die jesidisch geprägten Dörfer im Shingal-Gebirge überrannt hatte, und retteten sich in Bergregion­en nahe der syrischen Grenze, wo sie, von Hunger und Durst geplagt, bei über 40 Grad Celsius auf Hilfe warten mussten.

Tausende Männer wurden von Extremiste­n umgebracht, Tausende Frauen und Kinder verschlepp­t, versklavt und missbrauch­t. Manche wurden gleich mehrfach wie Vieh verkauft. Die UN sprachen von einem Völkermord an der religiösen Minderheit. Nach der Vertreibun­g des IS wurden viele Massengräb­er entdeckt. Noch heute sind nach Schätzunge­n von Experten etwa 3000 Frauen verschwund­en – Schicksal unbekannt. „Wenn ich irgendwann mal Anwalt bin, will ich dafür sorgen, dass den Opfern Gerechtigk­eit widerfährt und die Täter vor Gericht gestellt werden“, sagt Sadik. Aber vor dem Studium steht das Abitur im kommenden Jahr an.

Ysra, die sich bei einem Besuch im Frühjahr noch für das Studienfac­h Architektu­r interessie­rte, will nach dem Abitur im Jahr 2021 Psychologi­e studieren und sich wie ihr Bruder für Gerechtigk­eit und Gesundheit einsetzen: „Ich habe neulich einen bekannten Psychologe­n kennengele­rnt, er hilft den Leuten hier im Camp ganz enorm!“

Die Fahrtkoste­n sind normalerwe­ise hoch: „Umgerechne­t 25 Dollar waren pro Monat für das private Schulbus-Unternehme­n fällig“, sagt Sadik. Bisher hat eine Nicht-Regierungs­organisati­on diese Kosten übernommen: „Aber diese Organisati­on hat sich, wie so viele andere Organisati­onen auch, aus der Arbeit in den Camps zurückgezo­gen, sodass Familien wie die von Ysra und Sadik am Existenzmi­nimum leben“, bestätigt Campleiter Shero Smo. Seitdem der Vater gestorben ist, sei die Situation für die Familie noch schwierige­r geworden. Alle sechs Wochen bekommt das jeweilige Familienob­erhaupt elf Dollar pro Kopf für Nahrungsmi­ttel.

Über die Fahrtkoste­n brauchen sich Ysra und Sadik übrigens keine Sorgen mehr zu machen: Denn nicht nur die zwei 21-Sitzer-Busse konnten aus Spendengel­dern finanziert werden, auch Treibstoff und die Gehälter der Busfahrer sind für die nächsten Monate gesichert. „Bitte helft uns, damit auch im nächsten Jahr Busse in Richtung einer besseren Bildung fahren können“, sagt Campleiter Shero Smo: „Ihr Geld kommt hier gut an – dafür stehe ich ein!“

 ??  ??
 ?? FOTOS: MÖ ?? Ysra und und ihre Mutter Naamelias Alaji (oben) leben im Camp Mam Rashan. Ysra und ihr Bruder Sadik (unteres Bild, zweite Reihe, rechts) nutzen Schulbusse, finanziert aus der Weihnachts­spendenakt­ion. Campleiter Shero Smo (unteres Bild, zweite Reihe, Mitte) appelliert: „Wir bitten um weitere zwei Busse!“
FOTOS: MÖ Ysra und und ihre Mutter Naamelias Alaji (oben) leben im Camp Mam Rashan. Ysra und ihr Bruder Sadik (unteres Bild, zweite Reihe, rechts) nutzen Schulbusse, finanziert aus der Weihnachts­spendenakt­ion. Campleiter Shero Smo (unteres Bild, zweite Reihe, Mitte) appelliert: „Wir bitten um weitere zwei Busse!“

Newspapers in German

Newspapers from Germany