Auf einem anderen Planeten
Marcel Kittel gewinnt seine 13. Etappe bei der Tour de France und holt sich den deutschen Rekord, Vorgänger Erik Zabel verneigt sich
BERGERAC (dpa/SID) - Blumen in der Rechten, den Siegerpokal in der Linken, und obendrein ein charmantes Lächeln: Marcel Kittel hat bei den Siegerehrungen der 104. Tour de France inzwischen große Routine. Im Ziel der 10. Etappe in Bergerac flog der 29 Jahre alte Erfurter zu seinem insgesamt 13. Tour-Etappensieg und übertrumpfte damit Ex-Profi Erik Zabel. „Mir geht es nicht um Legenden oder Rekorde. Ich will das hier genießen, das sind ganz spezielle Momente. So gut habe ich mich noch nie gefühlt“, sagte Kittel nach seinem vierten Triumph bei der diesjährigen Tour.
Zabel, der seine zwölf Siege zwischen 1995 und 2002 eingefahren hatte, verneigte sich vor Kittel. „Er ist der neue Cippolini, nur schneller und hübscher“, sagte der 47-Jährige mit Verweis auf seinen einstigen italienischen Rivalen Mario Cipollini: „Es ist eine reine Freude, ihm zuzuschauen. Er ist leichtfüßig und elegant.“
Die Konkurrenz hat längst kapituliert und feiert zweite Plätze wie einen Sieg. Nach 178 Kilometern von Périgeux nach Bergerac hatte Kittel vor dem zweitplatzierten John Degenkolb drei Längen Vorsprung. „Marcel ist im Moment auf einem anderen Planeten, was Explosivität und Schnelligkeit angeht. Keiner ist in der Lage, ihn Mann gegen Mann zu schlagen“, sagte sein früherer Teamkollege Degenkolb. Kittel steht über allen. Auch über André Greipel. Der deutsche Ex-Meister war restlos enttäuscht und verschwand wortlos in den Teambus. Dafür sprach sein Teamchef Marc Sergeant, der seine Mannschaft „in einer guten Position“gesehen hatte. „Aber wenn Kittel vorbeizieht, ist es zu spät“, sagte Sergeant. Kittel beherrscht seine Rivalen mit spielerischer Leichtigkeit. „Ich habe auf den richtigen Moment gewartet. Ich war in einer perfekten Position und konnte 250 Meter vor dem Ziel rausgehen“, sagte Kittel, der weiter sein Erfolgsrezept verfolgt: so spät wie möglich in den Wind gehen und dann mit Wucht an allen vorbeirauschen.
Für die Tour-Favoriten war die Sprintetappe wie ein verkappter Ruhetag. „Das war bisher vielleicht die angenehmste Etappe, kein Stress, alles perfekt“, erklärte der Träger des Gelben Trikots, Chris Froome. Der Brite führt das Gesamtklassement weiter mit 18 Sekunden vor dem Italiener Fabio Aru an.
Heute in Pau bietet sich dem in der Schweiz lebenden Kittel die nächste Siegchance, auch der Gewinn des Grünen Trikots in Paris wird immer greifbarer für den Quick-Step-Fahrer. Mit 275 Punkten liegt Kittel deutlich vor dem Australier Michael Matthews (173). Mit vier Etappenerfolgen – zuvor gewann er in Lüttich, Troyes und Nuits-Saint-George – hat Kittel seine Bestmarke von 2013 und 2014 eingestellt, laut Streckenplan hat er noch drei Chancen, um seine Rekorde auszubauen. Drei Fahrer haben seit 1903 sogar acht Etappensiege in einer Ausgabe, das dürfte unmöglich werden.
In Bergerac trotzte Kittel auch der kniffligen Zielpassage. Zwei scharfe 90-Grad-Kurven auf den letzten 1000 Metern – noch dazu auf einer schmalen Straße – waren ein gefährliches Handicap, doch Stürze blieben aus. Mehr als 170 Kilometer lang hatten in Yoann Ofredo und dem jüngsten Tourstarter Élie Gesbert (22) zwei einheimische Ausreißer das Rennen durch die Dordogne bestimmt. Aber ihre Flucht war 6800 Meter vor dem Ziel beendet. Kittel schlug zu – und räumte am Ende ein: „Diesen Rekord alleine zu haben, bedeutet mir sehr viel. Als ich mit dem Radsport begonnen habe, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, je die Tour zu fahren – und jetzt bin ich hier.“