Das Grauen auf VHS-Kassette
Mark Waschke und Corinna Harfouch ermitteln zum zweiten Mal gemeinsam in Berlin. Dieser „Tatort“ist nicht nur wegen der spannenden Krimihandlung sehenswert.
Waren kürzlich im Münchner „Tatort“noch Gewaltvideos zeitgemäß auf düsteren Onlineplattformen aufgetaucht, kommt das Grauen diesmal per VHS-Kassette. „Weihnachten 1 + 2“, so sind die beiden Video-Aufzeichnungen beschriftet, die selbst dem abgestumpften Karow (Mark Waschke) Erschütterung und Abscheu ins Gesicht zeichnen. Doch der Ermittler zwingt sich weiter hinzusehen, selbst durch einen Tränenschleier.
Diese Nahaufnahme, als Karow alles erkennt, ist nicht nur ein weiterer Beweis dafür, dass Waschke zu den überragendsten Schauspielern Deutschlands zählt. Sie ist auch die beste Szene im neuen Berliner „Tatort“mit dem Titel „Am Tag der wandernden Seelen“(ARD, Sonntag, 20.15 Uhr), weil sie alles zusammenfasst: ein Täter, der in der Vergangenheit lebt, nicht nur eine Leiche im Keller hat und seine perversen Vorlieben mit ganz bestimmten Frauen auslebt, Frauen aus der vietnamesischen Community Berlins.
In deren Lebenswelt spielt der zweite gemeinsame Fall von Karow und Susanne Bonard (Regie/Drehbuch: Mira Thiel und Josefine Scheffler). Corinna Harfouch spielt die Kommissarin unaufgeregt als (meistens) in sich ruhende Frau, die mehr mit ihrem schroffen Kollegen gemeinsam hat, als man auf den ersten Blick ahnt. Zu Beginn werden die beiden zu einem Häuschen in Berlin-Lichtenberg gerufen. Eine abgestürzte Drohne hatte zwei Kinder dort zu einem Toten geführt, der buchstäblich in ein Messer gefallen zu sein scheint. „Willkommen in den Neunzigern“, so begrüßt Karow seine Kollegin zur Durchsuchung des Hauses. Teppichboden, Wählscheiben-Telefon – und im Keller eine mit Blut besudelte Gartenliege und allerlei Folterwerkzeug. Während Karow – wie früher mit seiner mittlerweile toten Kollegin und Gelegenheitsgeliebten Nina Rubin (Meret
Becker) – den möglichen Tatverlauf nachstellt, unterhält sich Bonard draußen mit dem lesbischen Nachbarspärchen. Kurz nebenbei bemerkt: So sehr auf die Integration möglichst vieler gesellschaftlicher Minderheiten bedacht war wohl noch kein Krimi
Tatort
vorher. Der Assistent im Rollstuhl, die Gerichtsmedizinerin PoC, die Mami-und-Mama-Familie, die an den ruhigen Stadtrand gezogen ist: Das ist gut, wird aber etwas zu plakativ, wenn auch noch die Regenbogen-Girlande sanft im Lichtenberger Wind weht.
War das Todesopfer gleichzeitig Täter? Oder doch jemand anders? Auf der Suche nach einer Antwort und nach einer traumatisierten Vietnamesin, die möglicherweise das letzte Opfer war, tauchen die Kommissare immer tiefer in das Alltagsleben asiatischer Migrantinnen und Migranten in Berlin ein. Sie ermitteln in einer Parallelwelt zwischen Nagelstudios, vietnamesischen Restaurants und einer Tierarztpraxis, in der neben Hunden und Meerschweinchen auch Menschen ohne Aufenthaltstitel behandelt werden. Tierärztin Dr. Lê Müller (Mai-Phuong Kollath) spielt eine Schlüsselrolle in diesem Fall.
Religiöses Zentrum der vietnamesischen Community ist eine reich geschmückte Pagode, in der die verstorbenen Seelen ihren Platz haben. Dort hineinblicken zu dürfen, bringt nicht nur Karow einen Moment inneren Friedens und die Chance, endlich um Nina Rubin zu trauern – sondern auch den Fans am Bildschirm Einblick in eine Welt, die selbst den meisten Berlinern ihr Leben lang verborgen bleibt. Allein schon deshalb: Sehenswert!