Friedberger Allgemeine

Ein Italiener sieht in die Abgründe eines Dorfes

Der Schriftste­ller Sacha Naspini hat mit „Hinter verschloss­enen Türen“das vielstimmi­ge Porträt eines sterbenden Ortes in der Maremma geschriebe­n. Ein Buch von fiebriger Intensität.

- Von Lilo Solcher

Hinter verschloss­enen Türen, so auch der Titel des Romans von Sacha Naspini, passiert so einiges, was das Licht der Öffentlich­keit scheut. Der Autor, der aus dem toskanisch­en Grosseto kommt, öffnet die Türen des fiktiven Dorfes Le Case in der Maremma für eine staunende und immer wieder auch schockiert­e Leserschaf­t. Naspini hat ein vielstimmi­ges Porträt eines sterbenden Ortes geschriebe­n, rau und rücksichts­los.

Im Zentrum des Geschehens steht Samuele, der Waisenjung­e, der Le Case den Rücken gekehrt hatte und nach einer Mordanklag­e zurückgeko­mmen war. Um ihn ranken sich viele der Geschichte­n. Lügenmärch­en, Erinnerung­en, Verleumdun­gen. Samuele ist so etwas wie der rote Faden in diesem vielstimmi­gen, oft bösartigen

Chor. Dass er anders war als die wenigen gleichaltr­igen Jungs im Dorf, erfährt man, dass er Schach geliebt hat und wohl auch seine Großmutter, bei der er nach dem Verschwind­en seiner Mutter aufgewachs­en ist.

Wer Samuele wirklich war, darf er selbst erzählen, kurz bevor alles zu Ende ist, das Buch und auch das Dorf Le Case. Doch davor konfrontie­rt Sacha Naspini die Leser mit der ganzen Boshaftigk­eit der Dorfbewohn­er – und mit Geschichte­n vom Überleben. Wie der des deutschen Soldaten, den eine Mutter aus Le Case bei sich aufnahm, um aus ihm einen Wiedergäng­er ihres gefallenen Sohnes zu machen. Oder die Geschichte der wenig ansehnlich­en Graziella, die sich auf grausame Art an der Dorfschönh­eit rächt. Oder die des Mannes, der seinen schwulen Zwilling erschlagen hat und als ebendieser weiterlebe­n muss.

Es ist das Dorf selbst, das diese Bösartigke­it hervorbrin­gt. „In Le Case herrscht Schweigen. Hinter jeder Tür stecken Zimmer, aus denen die Einsamkeit quillt, die üble, die dich fassungslo­s macht.“Das inzwischen geschlosse­ne Bergwerk hat Väter und Brüder verschlung­en und der kollektive Verlust die Menschlich­keit. Sacha Naspini nimmt kein Blatt vor den Mund, um die Abgründe der Dörfler zu beschreibe­n.

Die Aufgabe der Zeitzeugen überträgt der Autor den kleinwüchs­igen tauben Zwillingen. Die geheimen Aufzeichnu­ngen der Schwester, die zum internatio­nalen Bestseller avancieren, sind so etwas wie ein Buch im Buch. Die Zwillinge, die durch einen Blitzschla­g vom Fluch der Taubheit befreit wurden, profitiere­n davon, von allen übersehen zu werden, aber selbst alles zu sehen: „Le Case bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich. Wenn es nicht von allein klappt, kommt ein Doktor, um dir zur Ermunterun­g auf die Schulter zu klopfen. Was uns betrifft, so haben wir es einem Blitz zu verdanken, dass uns noch kein Fläschchen ins Jenseits katapultie­rt hat. Ebenso wie diese Komödie aus Schweigen und Lügen, bei der sogar die Toten nicht das sind, was sie scheinen.“

Le Case ist mitleid- und würdelos, ein verkommene­s Kaff, das sich an der Heuchelei seiner Einwohner mästet. Insofern ist sein Untergang folgericht­ig. Die 576 Seiten bis zum bitteren Ende sind von einer fiebrigen Intensität, die niemanden kaltlässt. Mit „Hinter verschloss­enen Türen“ist Naspini ein großer Wurf geglückt.

> Sacha Naspini: „Hinter verschloss­enen Türen“. Aus dem Italienisc­hen von Mirjam Bitter und Henrieke Markert, Kein & Aber, 576 S., 26 €.

 ?? Alessandra Fuccillo Foto: ?? „Hinter verschloss­enen Türen“spielt sich in Sacha Naspinis gleichnami­gem Roman Wesentlich­es ab.
Alessandra Fuccillo Foto: „Hinter verschloss­enen Türen“spielt sich in Sacha Naspinis gleichnami­gem Roman Wesentlich­es ab.

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