Irres Lachen über entsetzliches Leid
Die gewagte Premiere von Luigi Nonos musikalischem Appell „Intolleranza 1960“in der Felsenreitschule geht an die Nieren. Der belgische Theatermacher Jan Lauwers will verstören
Salzburg Dass Luigi Nonos großer musikalischer Humanitätsappell „Intolleranza 1960“bislang noch nie bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wurde, ist so erklärlich wie erstaunlich – haben sich doch in den vergangenen Jahrzehnten auch etliche Stadttheater mit immensem Ehrgeiz um das Werk bemüht und sogar verdient gemacht, wie 2013 das Theater Augsburg.
Aber Salzburg mit seinem doch eher manifesten Hang zur BühnenKulinarik machte gerade unter solchen Führungsspitzen wie Karajan und Alexander Pereira einen Bogen um politisch brisante Stücke; ihnen passte das nicht zum sommerlichen Festspiel. Ihr Publikum jedenfalls sollte szenisch nicht behelligt werden.
Auf der anderen Seite aber besaß Luigi Nono, dieser ernsthaft brennende venezianische Komponist, gerade in Salzburg insofern einen guten Stand, als er zumindest in Konzertreihen, programmiert durch Markus Hinterhäuser, substanziell erklang. Seit 2016 nun ist Hinterhäuser Intendant; seitdem fehlte nur noch „Intolleranza 1960“als Salzburger Großtat. Aber: Zum 100-jährigen Geburtstag der Festspiele 2020 angesetzt, kam Corona dazwischen.
Jetzt indessen, 60 Jahre nach der venezianischen Uraufführung voller rechtsgerichteter Störungen, hat „Intolleranza 1960“endlich die Felsenreitschule erreicht, diese archaische Bühne, wie geschaffen für das immer wiederkehrende Unheil in der Menschheitsgeschichte, auf das ein immer wiederkehrendes „Nie wieder!“folgt.
In „Intolleranza“ist es – unter weiteren Entrechteten, Ausgebeuteten, Gedemütigten – ein Migrant, der in einem Stationendrama, auf einem Kreuz- und Passionsweg das Leid derer „im Dunkeln“über sich ergehen lassen muss, um mit Bert Brecht zu sprechen, mit dem Stück auch endet: „Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd, durch die Kriege der Klassen, verzweifelt wenn da nur Unrecht war.“Die Stationen dieses Migranten aber sind: Bergwerksmaloche, der Versuch, in die Heimat zurückzugelangen, Verhaftung, Folterung, Flucht, eine tödliche Überschwemmung. Dass „Intolleranza“angesichts anhaltender Bergwerksunglücke, weltweit zunehmender Flüchtlingszahlen, gewalttätiger Autokratien, angekündigten Hochwassers nicht aktuell wäre, kann kaum behauptet werden.
Und angesichts der österreichischen Flüchtlingspolitik und dem zu erwartenden afghanischen Exodus suchte auch Jan Lauwers, dieser ausgezeichnete belgische Theatermacher („Needcompany“), dem Festspielpublikum an die Nieren zu gehen. Er wollte behelligen. Einerseits, unmittelbar vor Vorstellungsbeginn, mit Zahlen zu Flüchtlingsbewegungen, Flüchtlingstoten. Dann mit einer stark dynamisierten Bühnenaktion, die immer wieder von Handgemenge und Schreien, von kollektivem Rennen und Flüchten, von Chaos und Panik beherrscht wird. Höhepunkt bei Nono: die Folterungen, die Jan Lauwers über eine Viertelstunde hinweg drastisch ausspielen lässt und in die im Übrigen auch George Floyds „I can’t breathe“eingebunden ist.
Aber dann setzt Lauwers (auch Bühne und Videoeinspielungen) noch etwas stärker Verstörendes obendrauf. In Abweichung zu Nono lässt er einen blinden Dichter auftreten, der in einem Monolog Andeutungen dazu macht, dass hinter jedem Geflüchteten auch eine menschliche, eine tragische, eine berührende Geschichte steht. Aber nun wird nicht mehr gefoltert im Bühnenkollektiv, sondern minutenlang lauthals gelacht. Immer noch doller. Der Wiener Staatsopernchor, Statisterie, Tänzer: Sie kriegen sich nicht mehr ein vor Vergnügen. Und das sitzt und wirkt erschreckend in seiner Perversität. Lauwers, der mit den Festspielen auf eine internationale, vielfarbige Rollenbesetzung achtete, hält dem Publikum in diesem Moment gleichsam entgegen: Indem ihr wenig oder das Falsche oder nichts beitragt zur Rettung von Flüchtlingen, lacht ihr im Grunde über die Menschlichkeit.
Dies setzt, dramatisch zugespitzt natürlich, zu – wird aber durchaus im österreichischen Salzburg vom Festspielpublikum akzeptiert, das die Premiere heftig und stimmstark hochleben ließ, was angesichts der existenziellen Not im Stück auch ein wenig unpassend wirkt.
Dass aber musikalisch höchstes
Niveau erklang, bleibt auch wahr. Es ist schon ganz gut, dass sich Spitzenmusiker wie die Wiener Philharmoniker, der Wiener Staatsopernchor und ausgesuchte Solisten dieses intrikaten, vor allem rhythmische Komplikationen bietenden Werks annehmen. Wer diverse „Intolleranza“-Aufführungen gehört hat, weiß natürlich, dass den immensen Anforderungen unterschiedlich Paroli geboten wird. Im Falle Salzburgs jetzt frappierte insbesondere – bei allen katastrophischen Injektionen, die die Partitur verlangt – auch der Schönklang der Solisten und der durchaus philharmonische Ton von Orchester und Chor unter dem wachsamen Ohr von Ingo Metzmacher am Pult.
Das bot schon unerhörte neue Eindrücke zwischen musikalisiertem Schmerz hier und musikalisierter Glaube-Liebe-Hoffnung dort. Überragend neben dem Engagement des Chors: Sean Panikkar als Emigrant mit Belcanto-Timbre sowie Sarah Maria Sun als seine anrührende Gefährtin.
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Wiederholungen
29. August am 20., 26. und