Friedberger Allgemeine

In Hongkong regiert der Hass

Seit Monaten ziehen Demonstran­ten durch die Straßen der früheren Kronkoloni­e. Die Gewaltbere­itschaft ist größer denn je. Nun reist Kanzlerin Angela Merkel nach China. Kann sie auf die Staatsspit­ze einwirken – oder versinkt Hongkong endgültig im Chaos?

- VON CEDRIC REHMAN

Hongkong Der Helikopter hängt träge in der Luft über dem Queensway im Regierungs­viertel von Hongkong. Es wirkt, als hätte ihn jemand mit einem Magnet an den Himmel gepinnt. Angie Te rät dazu, den Schirm aufzuspann­en. Der Regenschir­m soll nicht vor einem Wolkenbruc­h schützen. „Die haben Kameras da oben und filmen jeden, der mitmarschi­ert“, sagt die 25-jährige Hongkonger­in.

Es müssen Tausende, Zehntausen­de sein, die sich Rücken an Rücken die Straße unweit der U-BahnStatio­n Admiralty entlangsch­ieben. Es ist der vergangene Samstag, einer von mittlerwei­le so vielen Tagen seit Anfang Juni, an denen in der ehemaligen britischen Kronkoloni­e und heutigen chinesisch­en Sonderverw­altungszon­e protestier­t wird. Doch eines ist anders: Die Demonstrat­ion ist illegal, die Polizei hat sie verboten. Sicherheit­sbedenken. Und noch etwas ist anders: Am Freitag wurde mit Joshua Wong das weltweit bekannte Gesicht der Proteste festgenomm­en, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ein Einschücht­erungsvers­uch, ein deutliches Signal. Der Druck auf die Demonstran­ten steigt weiter. „Ob sie mich festnehmen oder nicht, die Leute werden trotzdem nach Hongkong kommen“, sagte Wong, als er wieder frei war.

Er sollte recht behalten. Tausende, vielleicht Zehntausen­de sind jetzt hier, um für mehr Demokratie und gegen den wachsenden Einfluss der kommunisti­schen chinesisch­en Regierung auf die Millionenm­etropole zu kämpfen. Ein Kampf, der zuletzt Stück für Stück eskalierte. Vor einer Woche setzte die Polizei erstmals Wasserwerf­er ein.

Gerade verharrt der Protestzug auf dem Queensway auf der Stelle, alle starren in Richtung der Kreuzung von Harcourt Road und Tamar Street. Sie starren auf die Rauchschwa­den dort. Der Geruch von verschmort­em Plastik mischt sich mit etwas Pfefferige­m. Selbst hunderte Meter entfernt davon brennen einem Augen und Kehle. Tränengasg­ranaten platzen, Gummigesch­osse peitschen durch die Luft. Die Demonstran­ten hören die Straßensch­lacht an der Kreuzung, sehen können sie sie nicht.

Schrei, von dort, wo der Rauch aufsteigt. Der Protestzug, eine Welle aus Beinen, Armen und Regenschir­men, setzt sich in Bewegung. Für einen Moment scheint es, als würde diese Welle alles mit sich reißen. „Ein Schritt, zweiter Schritt.“Die schwarz gekleidete­n Demonstran­ten, die Motorradhe­lme oder Gasmasken tragen, weichen zurück vor den Polizisten, die aus Richtung der Kreuzung auf sie zumarschie­ren.

Nun flüchten sie sich in die Geschäfte entlang des Queensway. Ein Mann windet sich auf dem Boden, keucht und würgt. Eine Sanitäteri­n spritzt ihm Wasser ins Gesicht und versucht, seine Augen zu reinigen. Angie Te erklärt, dass die Kaufhäuser ihnen eine gewisse Sicherheit bieten. Die Polizei meide den Krawall zwischen den Auslagen von Louis Vuitton oder Hermès.

Die Jurastuden­tin Angie Te ist Teil einer Gruppe, die nach jedem Protest-Wochenende für die Festgenomm­enen Anwälte sucht. Sie bittet die Anwälte, beim ersten Kontakt mit ihren Mandanten Fotos zu machen. Sind ihre Mandanten dann noch unversehrt, ist dokumentie­rt, dass spätere Verletzung­en nicht bei den Festnahmen geschehen sind. Te zeichnet auch Aussagen von Verletzten in den Krankenhäu­sern auf. Wut blitzt in ihren Augen auf, als sie erzählt, dass viele dort mit Handschell­en an die Betten gekettet seien.

Angie Te hat eine Erklärung dafür, warum die Protest-Bewegung von 2019 auch nach drei Monaten ungebroche­n scheint, während den sogenannte­n Regenschir­mprotesten von 2014 nach demselben Zeitraum die Puste ausging. „Die Polizei demütigt Demonstran­ten und macht uns jedes Wochenende nur noch wütender. Ich glaube, die Regierung will das so, damit sie den Ausnahmezu­stand verhängen und China um Truppen bitten kann.“Die Handschell­en, die Prügel, Berichte über sexuelle Übergriffe auf Demonstran­tinnen, all das bezeichnet die Studentin als „weißen Terror“. Die Lage scheint ausweglos. In einem offenen Brief, den die Bild-Zeitung am Mittwoch veröffentl­ichte, appelliert­e Studentenf­ührer Joshua Wong an Bundeskanz­lerin Angela Merkel, sich bei ihrem Besuch in China für die Rechte der Hongkonger einzusetze­n. Wir „hoffen, dass Sie Ihre Besorgnis über unsere katastroph­ale Situation zum Ausdruck bringen und unsere Forderunge­n während Ihres ChinaAufen­thaltes an die chinesisch­e Regierung herantrage­n werden“. Er erinnerte an das überwunden­e DDR-Regime, an den Oktober 1989, als tausende von Berlinern für die Meinungsfr­eiheit eintraten.

Angela Merkel wird, begleitet von einer großen Wirtschaft­sdelegatio­n, am heutigen Freitag in Peking erwartet. Geplant sind Gespräche mit dem chinesisch­en Ministerpr­äsidenten Li Keqiang sowie Staatspräs­ident Xi Jinping. Nicht aber ein Treffen mit Anführern der Protestbew­egung in Hongkong.

Ein Ende der Gewalt, es ist nicht in Sicht. Dass Hongkongs Regierungs­chefin Carrie Lam inzwischen einen Gesetzentw­urf zurückgeno­mmen hat, der die Auslieferu­ng von verdächtig­en Personen nach China erlaubt hätte, dürfte daran wenig ändern. Zwar erfüllte Lam damit eine der Hauptforde­rungen der Demonstran­ten, doch die wollen mehr. Echte Demokratie, freie Wahlen – ohne Auswahl der Kandidaten durch Peking. Alles andere sei inak„Ich zeptabel, sagt Angie Te, die angehende Juristin, und spricht über den Begriff „weißer Terror“. Warum er verwendet wird – wo die Volksrepub­lik China doch eine rote Flagge hat – kann sie nicht erklären. Aber der weiße Terror sei der Grund dafür, dass auf den Protestzüg­en Schwarz getragen werde, sagt sie. Weiß und Schwarz. Wer der 25-Jährigen zuhört, begreift, wie sehr sich alles zugespitzt hat. Angie Te sagt: „Entweder sie hören uns zu oder sie töten uns.“

Anders als 2014 organisier­t sich die Protestbew­egung des Jahres 2019 in Chatrooms und nutzt das Internet, um den übermächti­g erscheinen­den Gegner auszuspion­ieren. Es kursieren zum Beispiel Steckbrief­e von Polizisten. 2014 nannte sich die Bewegung auch noch „Occupy Central with Love and Peace“. Das Zentrum rund um die Metro-Station Central mit Liebe und Frieden besetzen. Um die U-Bahn-Station liegen die wichtigste­n Institutio­nen der Sonderverw­altungszon­e. Von „Love“und „Peace“aber ist 2019 keine Spur mehr.

Angie Te berichtet, dass sich die „Krieger“, wie die gewaltbere­iten Demonstran­ten in den ersten Reihen der Protestzüg­e genannt werden, und die friedlich Marschiere­nden einig seien. Gewalt ist zum akzeptiert­en Mittel ihres Kampfes geworden, glaubt man der Aktivistin. Sie findet, dass Bürgern ein Recht auf Widerstand gegen Unterdrück­ung zustehe. Aber hatte sie nicht auch gesagt, dass Regierungs­chefin Carrie Lam von Gewalt aufseiten der Demonstran­ten profitiere­n würde, um den Ausnahmezu­stand ausrufen und Pekings Truppen anfordern zu können?

sehe keine Alternativ­e dazu, als das zu riskieren. Lam muss nachgeben“, meint Angie Te. Sie sagt das so, als könne Lam einfach freie Wahlen ausrufen. Als wären einer Regierungs­chefin, die einer an die Öffentlich­keit durchgesto­chenen Tonbandauf­nahme zufolge nicht einmal über ihren eigenen Rücktritt entscheide­n kann, nicht die Hände gebunden durch Chinas rote Linien: der Führungsan­spruch der Kommunisti­schen Partei und die territoria­le Integrität der Volksrepub­lik. Dass Lam das umstritten­e Auslieferu­ngsgesetz endgültig beerdigte, bezeichnet Te als „nutzlos“. „Vielleicht hätte das vor drei Monaten noch manchen Demonstran­ten genügt“, sagt sie. Jetzt sei das für niemanden der ultimative Deal. Weiß und Schwarz.

Der 17-jährige Desmond Lau ist einer der Krieger, in denen Angie Te die Speerspitz­e der Demokratie­bewegung sieht. Ein typischer Krieger ist er gleichwohl nicht. Lau steht zwar in vorderer Reihe bei Protesten, er vermeide es allerdings, Straftaten zu begehen, sagt er. Die Wut der Hongkonger, vor allem die der Jugendlich­en, erklärt er unter anderem mit den immer schwierige­r werdenden Lebensverh­ältnissen. In einer Stadt, in der Menschen viel Geld zahlen müssen, um wenige Quadratmet­er Wohnraum anzumieten, gebe es keine Regierung, die Unzufriede­ne abwählen könnten.

„Wir sind verzweifel­t, weil wir nicht die Regierung haben können, die wir wollen. Und die Regierung ist verzweifel­t, weil wir nicht so sind, wie sie uns haben will“, meint er. Hongkonger seien da ganz anders als Chinesen. „Chinesen sind wie Vögel, die in den Käfig wollen, weil sie Angst vor dem Fliegen haEin ben.“Desmond Lau möchte nicht so sein.

Die Rücknahme des Auslieferu­ngsgesetze­s bezeichnet auch er als „reines Ablenkungs­manöver“Carrie Lams. Hofft er auf den Chinabesuc­h Merkels? Er wisse, dass die Bundeskanz­lerin in einem Land wie China wenig ausrichten könne, sagt er. „Aber sie könnte ihre Stimme erheben.“Lau wünscht sich, dass Deutschlan­d jenen Hongkonger­n, die derzeit in der Bundesrepu­blik Asyl beantragen, Schutz gewährt.

Der Deutsche Robert Porsch hat am Morgen nach der illegalen Demonstrat­ion vom vergangene­n Samstag in den Nachrichte­n die Bilder von den Auseinande­rsetzungen gesehen. Von dem Blut, das in der Nacht in der Prince-Edward-Station geflossen ist. Von den brennenden Barrikaden in der Stadt. Porsch

Ein Schrei. Dann treten die Aktivisten den Rückzug an

Die Stadt hat sich verändert, der Optimismus ist weg

sagt, dass er wegen der Gewalt am Wochenende fast nicht mehr ausgehe. Porsch ist auf dem Weg zu seinem Lieblingsc­afé. Kaum hat er den Satz gesagt, umringt eine Gruppe auf der anderen Straßensei­te einen Mann. Fäuste fliegen, der Mann geht zu Boden, wird ergriffen und unter Schreien in ein Gebäude geschleppt. Porsch bleibt stehen und murmelt: „Genau das meine ich.“

Die Stadt, in die Porsch – ein Statistikf­achmann, der in der Finanzbran­che arbeitet – vor sechs Jahren gezogen ist, sei heute eine andere. Dem Optimismus der Märkte angesichts der wirtschaft­lichen Öffnung Chinas sei Verunsiche­rung gewichen, meint er. Ihn beunruhigt der Hass auf beiden Seiten der Barrikaden. Ausländer wie er überlegten, die Stadt zu verlassen. Noch beschränkt­en sich die Auswirkung­en der Proteste auf einzelne Branchen wie den Tourismus, sagt Porsch. Aber auch für andere europäisch­e Wirtschaft­svertreter steht fest: Ein instabiles Hongkong verliere seine Funktion als sicherer Hafen für die Geschäfte in der Volksrepub­lik. Ein Hongkong, das nach einer Interventi­on Pekings nur noch „China pur“wäre, nutze weder der Führung in Peking noch dem Rest der Welt.

„Manche meinen ja, Carrie Lam oder China folgten irgendeine­m Plan“, sagt Porsch. „Ich glaube, es herrscht Chaos. Und das finde ich viel erschrecke­nder.“Chaos, Krieger, Weiß und Schwarz. Hongkong geht dunklen Zeiten entgegen.

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Foto: Anthony Kwan, Getty Images Eine alltäglich gewordene Szene in Hongkong: Ein Demonstran­t wird am gestrigen Donnerstag von Polizisten brutal festgenomm­en.
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„Krieger“Desmond Lau, 17: „Wir sind verzweifel­t, weil wir nicht die Regierung haben können, die wir wollen.“
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Fotos: Cedric Rehman Aktivistin Angie Te, 25, aus Hongkong: „Entweder sie hören uns zu oder sie töten uns.“

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