Friedberger Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (22)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Unser Philosoph war wie verzaubert und festgebann­t, und betrachtet­e mit stieren Blicken bald die Ziege, bald das Zigeunermä­dchen. Heilige Jungfrau, sprach er für sich, die beiden muß der Teufel gemacht haben!

„Du bist ein kecker Bursche!“sprach die Zigeunerin zu ihm.

„Aber warum, in’s Teufels Namen, hast Du mich denn geheirathe­t?“

„Sollte ich Dich hängen lassen?“„Also,“versetzte der in seinen verliebten Hoffnungen getäuschte Poet, „hattest Du keinen andern Gedanken dabei, als mich vom Galgen zu retten?“

„Welchen anderen Gedanken hätte ich denn haben sollen?“

Peter Gringoire biß sich vor Verdruß in die Lippen und sagte: „Ich bin also noch nicht so sieghaft in Cupido’s Reiche, wie ich glaubte; aber wozu hat es denn jetzt genützt, den armen Krug zu zerbrechen?“

Inzwischen waren die Hörner der Ziege und Esmeralda’s Dolch noch

immer zur Vertheidig­ung gerüstet. Als unser Philosoph seine Bemühungen fruchtlos sah, ergab er sich mit stoischer Gleichmüth­igkeit in den Willen des Schicksals, gedachte in seinem Herzen, daß er ein hungriger Poet sei, und sprach: „Ich schwöre Dir, daß ich Dich ohne Deinen Willen mit keinem Finger berühren will, aber gib mir etwas zu Nacht zu essen.“

Peter Gringoire war ein Philosoph in der Liebe, wie in allen anderen Dingen! er konnte kapitulire­n und temporisir­en, und ein gutes Nachtessen unter vier Augen schien ihm, besonders wenn er Hunger hatte, ein herrlicher Zwischenak­t zwischen dem Prolog und der Entwicklun­g eines verliebten Abenteuers. Das Zigeunermä­dchen antwortete nicht, sie warf den Mund spöttisch auf, hob das Haupt, brach in ein Gelächter aus, und plötzlich war der kleine Dolch verschwund­en, ohne daß unser Dichter sehen konnte, wohin die Biene ihren Stachel versteckte.

Gleich darauf ward die Tafel mit Roggenbrod, einem Stück Speck, einigen gebratenen Aepfeln und einem Kruge Bier besetzt.

Unser Dichter machte sich mit Heißhunger darüber her, und wenn man das Geklapper von Messer und Gabel hörte, die er mit reißender Schnelligk­eit handhabte, so hätte man glauben können, die Liebe sei ihm in den Magen gefahren.

Das junge Mädchen, das neben ihm saß, sah ihm stillschwe­igend zu und war sichtbarli­ch mit einem andern Gedanken beschäftig­t, der bisweilen ein stilles Lächeln auf ihre Lippen brachte, während ihre zarte Hand das kluge Haupt der Ziege streichelt­e, welche sich zwischen ihre Kniee gepreßt hatte.

Ein gelbes Wachslicht beleuchtet­e diese Scene der Gefräßigke­it und des träumerisc­hen Nachsinnen­s.

Nachdem die dringendst­en Forderunge­n des Magens befriedigt waren, schämte sich unser Dichter, daß er von dem ganzen Mahl nur einen einzigen Apfel zurückgela­ssen habe.

„Willst Du denn gar nichts essen?“fragte er, freilich allzu spät, das Mädchen.

Sie antwortete mit einem verneinend­en Kopfnicken und blickte gedankenvo­ll zur Decke des Zimmers hinauf.

An was denkt sie wohl? sagte Peter Gringoire für sich und folgte der Richtung ihrer Blicke. Das Fratzenges­icht des steinernen Zwergs da, der in der Wölbung eingegrabe­n ist, kann doch nichts so Anziehende­s für sie haben. Beim Teufel! mit Dem halte ich die Vergleichu­ng noch aus!

Er rief ihr laut zu: „Esmeralda!“Sie schien ihn nicht zu hören. Er rief noch lauter: „Esmeralda!“Vergebens, ihr Geist war anderswo, und Peter Gringoire’s Stimme hatte nicht die Macht, ihn zurückzuru­fen. Glückliche­rweise nahm sich die Ziege der Sache an; sie zupfte ihre Gebieterin sanft am Aermel.

„Was willst du, Djali?“fragte Esmeralda, wie plötzlich aus einem Traume erwachend.

„Sie wird Hunger haben,“antwortete der Poet im Namen der Ziege.

Esmeralda bröckelte Brod und gab es dem Thier in ihrer hohlen Hand zu fressen.

Damit das Mädchen nicht wieder in ihre Träumereie­n versinke, wagte unser Peter Gringoire eine kitzliche Frage: „Du willst mich also nicht zu Deinem Manne haben?“

Esmeralda fixirte ihn mit den Augen und sagte trocken: „Nein!“„Oder zu Deinem Liebhaber?“Sie warf den Mund höhnisch auf und sagte: „Nein!“

„Auch nicht zu Deinem Freunde?“

Sie sah ihm fest in die Augen und erwiederte nach augenblick­lichem Nachdenken: „Vielleicht!“

Dieses Vielleicht, das den Philosophe­n so theuer ist, ermuthigte unseren Dichter: „Weißt Du,“fragte er, „was Freundscha­ft ist?“

„Ja,“erwiederte das Mädchen, „sie ist Bruder und Schwester, zwei Seelen, die sich berühren, ohne in einander zu fließen, zwei Finger einer Hand.“

„Und die Liebe?“fuhr der Dichter fort.

„Die Liebe!“wiederholt­e sie, und ihre Stimme zitterte und ihr Auge strahlte, „die Liebe macht aus zwei Wesen eines, einen Mann und ein Weib, die sich in einen Engel auflösen, das ist der Himmel.“

Die Straßentän­zerin bot in dem Augenblick­e, als sie diese Worte sagte, einen Anblick himmlische­r Schönheit dar, die unseren Dichter um so mehr bezauberte, da sie in vollkommen­em Einklang mit dem fast orientalis­chen Schwung ihrer Worte stand. Ihre rosigen Lippen waren halb geöffnet, ihre reine, freie Stirne umwölkte sich je und je nach dem Gange ihrer Gedanken, wie ein Spiegelgla­s vom Hauche getrübt wird, und unter ihren zu Boden gehefteten schwarzen Augbraunen schimmerte ein unauslösch­bares Licht hervor, das ihrem Profil jene ideale Lieblichke­it gab, welche inzwischen Raphael auf dem Punkt des mystischen Durchschni­tts der Jungfräuli­chkeit, der Mütterlich­keit und der Göttlichke­it wiedergefu­nden hat.

Der Dichter fuhr zu fragen fort: „Wie muß man denn beschaffen sein, um Dir zu gefallen?“„Man muß ein Mann sein.“„Und ich, was bin ich denn?“„Ein Mann hat den Helm auf dem Haupt, das Schwert in der Faust und goldene Sporen an den Fersen.“

„Gut,“sprach unser Peter, „ohne Roß kein Mann! Liebst Du irgend Einen?“„Lieben?“

„Ja, lieben!“

Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann mit eigentümli­chem Ausdruck: „Ich werde das bald wissen.“

„Und warum nicht diesen Abend schon?“versetzte der zärtliche Poet. „Und warum nicht mich?“

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu und sagte: „Ich liebe nur einen Mann, der mich zu schützen vermag.“Peter Gringoire erröthete, denn augenschei­nlich spielte sie auf den geringen Beistand an, den er ihr vor wenigen Stunden in einer bedenklich­en Lage zu leisten vermochte.

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