Die neue Sitzfreiheit im Klassenzimmer
Wer sitzt wo und auf was? Offene Lernlandschaften sind in Schulen zunehmend gefragt. Warum Sitzordnung und Raumausstattung wichtig sind für den Lernerfolg
Augsburg/Günzburg Anna will nicht neben Paul sitzen, Jannik nur neben Flo und Lisa. Er verdrückt sich immer in die letzte Reihe. Wenn das nur alles wäre, was es bei der Festlegung der Sitzordnung im Klassenzimmer zu beachten gäbe. Wer sitzt wo und warum? Wie werden Stühle und Tische am besten angeordnet? Und sitzen Schüler überhaupt noch auf Stühlen? Antworten darauf geben Lehrer, das Kultusministerium und Fünftklässler des Dossenberger-Gymnasiums in Günzburg.
Die Sitzordnung ist „wirklich eine Schlüsselsache“, sagt Lehrerin Brigitte Dannhäuser, die vor kurzem in den Ruhestand gegangen ist und unter anderem an der Mittelschule in Friedberg unterrichtet hat. Aus Erfahrung weiß sie: Die Sitzordnung ist „nicht zu unterschätzen für den Lernverlauf“. Die Leistungsfähigkeit könne leiden, wenn man ein paar Schüler falsch platziere. Die Sitzordnung hänge von der Unterrichts-, Sozial- und Gesundheitsform ab. Manche kämen nicht gut mit den Sitznachbarn aus. Es gebe andere, die schlechter sehen oder hören und Schüler, die nicht gegen das Licht schauen können oder zu groß seien für die erste Reihe. „In der Regel strukturierst du das dann irgendwie“, sagt Dannhäuser.
Vorgaben des Kultusministeriums gibt es keine. „Die Festlegung der Sitzordnung obliegt den Lehrkräften vor Ort“, erklärt Sprecher Andreas Ofenbeck. Denn nur sie könnten die Sitzordnung der Klasse den jeweiligen Gegebenheiten anpassen und seien pädagogisch so geschult, dass sie die Entscheidung, wer wo in ihrem Raum sitze, selbst treffen könnten.
Sitzen und Stühle im Klassenzimmer – das sei durchaus ein Thema, das Eltern und Lehrer beschäftigt, sagt auch Sabine Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerund Lehrerinnenverbands (BLLV). Es sei wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, welche Raumausstattung zu Lehrern und Schülern passe. Das sei ganz entscheidend für den Lernerfolg. Ein Trend gehe hin zu Stehpulten für Vorträge und Referate. Als Lehrerin habe sie zudem oft die Methode des Platzwechsels angewandt und Schüler auch mal auf Sitzkissen und in Sitzecken sitzen lassen. So werde das eine „dynamische Geschichte“, sagt Fleischmann.
Dynamisch geht es auch hinter den Türen des Raumes 513 des Dossenberger-Gymnasiums in Günzburg zu. „Wie groß ist wohl eine Toga?“, fragt Lateinlehrer Georg Ruß seine Fünftklässler und breitet ein großes Stück Stoff auf einem noch viel größeren Teppich aus, der fast den gesamten Raum einnimmt. Seine Schüler sitzen auf Kissen im Kreis. Zuvor haben sie ihre Schuhe aus- und warme Socken angezogen.
Raum 513 ist eine sogenannte offene Lernlandschaft. Im September 2017 wurde sie eingerichtet. Hier gibt es dreieckige Tische mit einer Rolle an je einem Tischbein, sodass es auch für Schüler leicht ist, sie umzustellen. Die Kinder haben zudem die Möglichkeit, sich auf den Boden zu legen, auf Bänke oder Kissen zu sitzen oder Sitzsäcke zu nutzen.
Sich frei im Raum bewegen zu können, sei ein großer Vorteil für Lehrer und Schüler, sagt Ruß. Da die Kinder nicht so eng aufeinandersäßen, könne er besser individuell auf sie eingehen. Und: „Die Kinder sollen sich so hinsetzen, wie es für sie bequem ist.“Den Raum können die Lehrer über das Internet buchen, auch per App. Er werde gut angenommen, sowohl von Schülern als auch Lehrern, sagt Schulleiter Peter Lang.
Die Fünftklässler von Georg Ruß zeigen sich jedenfalls begeistert. „Das ist mal was anderes, das ist schon cool und auch ein bisschen Ausgleich“, sagt der zehnjährige Jakob, der vor seinem Lateinbuch am Boden liegt. Sein gleichaltriger Klassenkamerad Samuel nickt. Ihm gefallen die Sitzsäcke. Die seien bequemer als Holzstühle. Jakob fügt hinzu: „Für Gruppenarbeiten ist der Boden gut, weil man sich gut zusammensetzen kann.“
Perfekt für Gruppenarbeiten und zum gegenseitigen Abfragen findet die zehnjährige Hannah auch die dreieckigen Tische. Die könne man besser verschieben und verschiedene Sitzordnungen ausprobieren – besser als im Klassenzimmer. Büsra, elf Jahre alt, gefällt es, gemütlich ohne Schuhe rumzulaufen.
Schulleiter Peter Lang zufolge war der Raum für die fünften Klassen gedacht, jetzt nutzen ihn auch höhere Jahrgangsstufen. Bei der anstehenden Sanierung will er daher mehrere Bereiche im Schulhaus mit offenen Lernlandschaften ausstatten. An Grundschulen sei das bereits gang und gäbe. Inzwischen gehen laut Lang auch viele andere Regelschulen diesen Weg.
In ihrem regulären Unterrichtsraum haben Jakob, Hannah und ihre Klassenkameraden momentan eine sogenannte Überecksitzordnung. Jeweils vier Einzeltische formen ein „L“. Lehrer Georg Ruß erklärt die Vorteile: Es sei schnell Gruppenarbeit möglich, der Lehrer könne sich freier bewegen, es lasse sich schnell Platz schaffen und jeder sehe gut zur Tafel. Den Schülern gefällt es.