Warum 1918 alles verändert hat
Schicksalsjahr Endlich Frieden! Aber die Revolution in Deutschland scheitert – und eine Krankheit tötet noch viel mehr Menschen als der Erste Weltkrieg
In Deutschland kann es keine Revolution geben, weil man dazu den Rasen betreten müsste.“Stalin soll das gesagt haben. Womöglich auch Lenin. Ist zwar ein beträchtlicher Unterschied, funktioniert als Kontrastmittel zu dem, was sich hier vor 100 Jahren zugetragen hat, aber beides. Unter Stalin starben Millionen im Terror gegen die eigene Bevölkerung, Lenin befahl politische Säuberungen, installierte Rote Armee und Geheimdienst. Und die Deutschen 1918? Scheiterten sie, weil sie zu viel Angst hatten, ihr Weg könnte in die Gewalt führen? Begründete das den Ruf? „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“
Der Historiker Joachim Käppner hat die entscheidenden Monate in „1918 – Aufstand für die Freiheit“umfassend aufgearbeitet und kommt zu einer Verschränkung von zweierlei Gründen. Er nennt die Geschehnisse einerseits eine „deutsche Revolution“, weil: „Viel größer als zur eigenen Basis ist jedoch das Vertrauen (Friedrich) Eberts und seiner führenden Genossen in die Heeresleitung und die alte Generalität, die erst ein Jahrzehnt zuvor den Straßenkrieg gegen die Sozialdemokraten als ‚inneren Feind‘ hatten planen lassen.“Deutsch: Zu viel Angst vor den Konsequenzen der Macht nach dem Sturz des Kaisers und vor der ohne militärische Hilfe womöglich unkontrollierbaren Gewaltbereitschaft der eigenen Anhänger also.
Andererseits aber spielen auch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs eine entscheidende Rolle. Revolutionäre, die Käppner sympathischer sind als Ebert, wie Scheidemann, Barth und Haase, zeigten sich schockiert von den diktierten Bedingungen. Wilhelm Dittmann, ein nimmermüder, linker Kriegsgegner, notierte: „Der siegreiche EntenteMilitarismus ließ das revolutionäre Deutschland für die Sünden des kaiserlichen Regimes büßen.“Und so musste etwa auch die revolutionäre USPD zustimmen, die Oberste Heeresleitung im Amt zu lassen, weil nur so in der Frist von 15 Tagen ein irgendwie geordneter Rückzug der Soldaten von der Westfront möglich erschien. Die alten Kräfte blieben bewaffnet, die neuen zaudernd, zerstritten – so zerbarst der Traum, die Revolution war nach wenigen Monaten zu Ende, der Rest, so Käppner: „jahrelanger Bürgerkrieg“.
Dabei hatte alles so anders begonnen, im Gegensatz zu Russland, aber auch Frankreich einst, deutsch: Als am 29. Oktober im „Kieler Matrosenaufstand“die Besatzung des Schlachtschiffs Thüringen sich dem Fortführen des Kriegs verweigerte, als am 9. November die Naumburger Jäger sich weigerten, gegen „die Roten“vorzugehen – eine Revolution ohne Schuss, mit „Soldaten, die sich für die Freiheit erheben, ihren Offizieren den Degen wegreißen und Schluss machen wollen mit der Herrschaft der Generäle.“Der Kieler Anführer Lothar Popp wird sich später erinnern: „Ich habe nicht im Traume gedacht, dass die Welt so verrückt ist und die Offiziere noch einmal kommandieren lässt.“
Aber die dunkle Saat konnte aufgehen, die Ludendorff bereits am 1. Oktober bei einer Besprechung mit seinen Offizieren ausgebracht hatte, laut Käppner „eine der erfolgreichsten Verschwörungstheorien der Weltgeschichte“. Der Kriegsgeneral erklärte, er habe den Kaiser gebeten, „diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind“. Gemeint: die demokratischen Parteien im Reichstag. Die Propagandafährte zum Zweiten Weltkrieg ist gelegt.
Der größte Killer des 20. Jahrhunderts – je nach Schätzung fallen ihm zwischen 50 und 100 Millionen Menschen zum Opfer – bleibt über Jahrzehnte unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit. Erst heute, 100 Jahre nachdem er seine Spur von Tod und Verheerung über den Globus gezogen hat, haben Forscher die Daten und Analysemethoden zur Verfügung, um aus einer schier unüberschaubaren Fülle von Beobachtungen eine fast lückenlose Indizienkette zu knüpfen. Schuld am massenhaften Sterben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Spanische Grippe. Und wir sind gut beraten, diesen Fall gründlich zu studieren. Denn bis ein neues, mutiertes Grippevirus auftaucht, das eine neue Pandemie auslösen könnte, ist es nur eine Frage der Zeit.
Diese Thesen vertritt die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney in ihrem bahnbrechenden Sachbuch über die Spanische Grippe – und hinterlegt sie mit einer Reihe plastischer Beispiele. Jeden dritten Erdbewohner infiziert die Spanische Grippe – rund 500 Millionen Menschen. Am 4. März 1918 wird der erste Fall aktenkundig. Im März 1920 gilt die Epidemie als überstanden. 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung sterben in nur zwei Jahren – wahrscheinlich mehr als in zwei Weltkriegen zusammen.
Die Frage, wo das Virus erstmals auftritt, kann immer noch nicht endgültig beantwortet werden. Viel spricht dafür, dass der heimtückische Erreger im amerikanischen Armeecamp Funston im tiefsten Kansas seinen Siegeszug beginnt. Mit den kasernierten Soldaten, die dort für ihren Einsatz in Europa gedrillt werden, kommt er über den Atlantik und später weiter in die ganze Welt. In den Schützengräben der Westfront findet der Virus, was er zum Überleben braucht: viele Menschen auf engem Raum, deren Immunsystem völlig unvorbereitet auf den neuen Erreger ist.
Nach bald fünf verheerenden Kriegsjahren setzt die deutsche Heeresführung im Frühjahr 1918 auf eine letzte, entscheidende Offensive. Deren Scheitern – und damit der Ausgang des Krieges und alles, was ihm folgt – könnte auch von der Spanischen Grippe beeinflusst sein. Jedenfalls sind in jenem Frühjahr 900 000 deutsche Soldaten durch die Influenza außer Gefecht gesetzt. Aber auch französische und britische Lazarette sind hoffnungslos überfüllt…
Es sind diese Querverbindungen, die Spinney an vielen Stellen zieht, die einen völlig neuen Blick auf eine Zeit erlauben, die uns seltsam nah und fern in einem erscheint. Antibiotika sind noch nicht erfunden. Gegen die Grippe könnten sie zwar nichts ausrichten. Aber viele der Kranken sterben an bakteriellen Folgeinfektionen, vor allem schweren Lungenentzündungen. Viren sind unbekannt, Ärzte stehen der Krankheit fast genauso hilflos gegenüber wie die Erkrankten. Es ist diese Mischung aus Faszination und Gruseln, die Spinney so meisterhaft erzeugt, die das Buch spannend macht wie einen Thriller.
Der Krieg bringt nicht nur Tod und Verheerung, er sorgt auch dafür, dass politische und gesellschaftliche Ordnungen kollabieren. Die Spanische Grippe beeinflusst diese schmerzhafte Modernisierung an vielen Stellen. Dies ist Spinneys wahres Thema und ihr besonderes Verdienst ist es, unseren so oft auf Europa und Nordamerika verengten Blick zu weiten, um globale Verschiebungen sichtbar zu machen. Auch der Wissenschaft gelingt es erst so, einen Killer dingfest zu machen, der keinen Unterschied macht zwischen Kultur und Hautfarbe. Außer in Europa fallen überall mehr Menschen der Grippe zum Opfer als dem Krieg.