Zurück zum Ballett
Als Kind war ihr der Druck zu groß. Jetzt, mit 42 Jahren, gibt es für Redakteurin Anna-helene Leitz nichts Entspannenderes, als zu tanzen. Vom Glück, ein altes Hobby wiederzuentdecken
Vom Glück, ein altes Hobby wiederzuentdecken. Und ein Interview, wie Sie es schaffen, dranzubleiben
Erste Position: Fersen zusammen, Fußspitzen nach außen. Ich schaue mich in der großen Spiegelwand links von mir an und öffne meine Füße noch ein wenig. Strecke die Knie durch, mache den Rücken kerzengerade und den Hals lang. Ziehe meinen Bauch ein und spanne den Po an. Obwohl ich erst seit ein paar Minuten an der Stange stehe, spüre ich jeden Muskel in meinem Körper. So federleicht es aussehen mag: Ballett ist harte Arbeit – und unglaublich schweiß-treibend. Um die richtige Technik zu erlernen, braucht es jahrelanges Training. Ich jedenfalls, das macht mir ein weiterer Blick in den Spiegel deutlich, bin zwar verschwitzt, aber von Perfektion noch meilenweit entfernt.
Dabei habe ich früh angefangen mit dem Tanzen. Mit fünf. Damals träumte ich von einem rosa Tutu und Spitzenschuhen und war überglücklich, als meine Mutter mich beim Ballett anmeldete. Vier Jahre später beendete ich meine Tanzkarriere wieder. Der Druck war mir zu groß geworden und meine Lehrerin, eine winzige Französin mit akkuratem Mittelscheitel, zu streng. Ihrer Meinung nach fehlte es mir an vielem: an Begabung, an Ausdauer, an Grazie sowieso. Das ließ sie mich jede Stunde spüren. Mit neun Jahren wechselte ich zum Turnverein. Mit Madame S. wollte ich nie wieder etwas zu tun haben.
„Und groooßes Plié.“Mit ruhiger Stimme begleitet Esther Sebestyen die Übungen an der Stange. Seit über 30 Jahren unterrichtet die ehemalige Profitänzerin, zierlich, im blauen Trikot und zarten Chiffon-rock, in ihrer Münchner Ballettschule Kinder und Erwachsene wie
» Wenn ich tanze, fällt jeglicher Stress von mir ab «
mich – mit viel Hingabe und untrüglichem Gespür für Nachlässigkeiten. Während ich wie die anderen acht Frauen und zwei Männer vor und hinter mir meine Knie zu klassischer Klaviermusik beuge und wieder strecke, wir unsere Füße nach vorne, zur Seite und nach hinten bewegen, geht sie aufmerksam an uns vorbei, korrigiert Arme, Beine, die Stellung von Hüften und Schultern. „Sauber durch die fünfte Position. Macht euch groß. Schön, Anna.“Ich freue mich riesig über das Lob und lächle meinem rotgesichtigen Spiegelbild zu.
All die Jahre habe ich oft daran gedacht, noch einmal mit dem Ballett zu beginnen. Getan habe ich es nie. Als Teenager fehlte mir der Mut. Ich wollte mich nicht erneut bloßstellen lassen. Später kam irgendwie nie der richtige Zeitpunkt. Nach dem Abi stürzte ich mich ins Studium, da waren andere Dinge wichtiger. Partys zum Beispiel oder die Sportstudenten aus der Nachbarwg. Mit anspruchsvollem Job und zwei Kleinkindern fehlte mir die Kraft. Mit 39 packte mich der Gedanke ans Tanzen dann erneut. Die Kinder waren gerade etwas selbstständiger geworden. Ich hatte ein bisschen Zeit übrig und überlegte: Was will ich machen? Was würde mir guttun? Und: Würde mir Ballett mit etwas Abstand und einer anderen Lehrerin vielleicht doch Spaß machen? Ich beschloss, einen Versuch zu wagen.
Vor der ersten Stunde war ich unglaublich nervös. Ist es nicht lächerlich, mit fast 40 noch mal in die Ballettschläppchen zu schlüpfen? Oder zu spät? Kann ich das noch? Was, wenn ich mich blamiere? Doch meine Sorgen waren unbegründet. Esther nahm sich Zeit, um mir die Schritte und Übungen zu zeigen. Niemand lachte. Niemand schaute blöd. Im Gegenteil: Meine Mittänzer – Mitte 20 bis Ende 50 und ebenfalls Anfänger bzw. Wiedereinsteiger – nickten mir aufmunternd zu. Zu meinem größten Erstaunen stellte ich mich nicht mal so übel an – mein Körper erinnerte sich an das, was er einmal gelernt hatte. Genau wie beim Fahrradfahren. Na gut, an fast alles. „Das ist bei vielen Schülern so, die schon als Kinder getanzt haben. Die Motorik ist da, auch wenn sie glauben, alles vergessen zu haben“, erklärte mir Esther. Wohl auch deshalb empfehlen Motivationspsychologen wie Veronika Job (im Interview ab Seite 58), bei der Suche nach neuen Hobbys an Dinge anzuknüpfen, die man schon früher mochte. Dann dauert es nicht so lange, bis man wieder ein Grundlevel erreicht hat. Die Folge: Man hat schneller Spaß und bleibt eher dran. Das kann ich nur bestätigen: In den letzten drei Jahren habe ich mich von den Anfängern bis in den Mittelstufenkurs hochgetanzt – trotz mehrerer Unterbrechungen wegen Kind Nummer drei und Corona. So viel zum richtigen Zeitpunkt.
Zurück im Ballettsaal: Ich sitze auf dem Boden, mein linkes Bein vor mir ausgestreckt, das rechte nach hinten angewinkelt, und beuge mich, so weit es eben geht, nach vorne, in Richtung linkes Knie. Genieße den angenehmen Dehnungsschmerz und das Gefühl, meinen Oberkörper lang zu machen. Durch das Arbeiten vorm Bildschirm sind meine Schultern nach vorne, mein Rücken in sich zusammengesunken. Seit ich einmal die Woche tanze, achte ich viel mehr darauf, aufrecht zu sitzen und durchs Leben zu gehen. Ballett erfordert Haltung – nicht nur äußerlich. Das schönste Beispiel? Kathrin, groß und ein wenig schlaksig, die mir vorhin in der Umkleide erzählt hat, dass sie nach einem Jahr Ballett ganz anders vor ihrem Chef steht. Mit dem Körpergefühl ist auch ihr Selbstbewusstsein gewachsen.
Überhaupt hat das Tanztraining jede Menge positive Effekte auf den Körper. Es kräftig fast alle Muskelgruppen, besonders die Bauch
und Rückenmuskulatur, steigert die Kondition, die Balance und die Koordination. Davon profitieren gerade ältere Schüler. Von Esther weiß ich: „Wer tanzt, altert ganz anders.“Nicht nur, weil man mit jungen Leuten zusammen ist, sondern auch, weil man beweglicher bleibt. Weil man viel schneller und adäquater reagiert, etwa beim Stolpern, und somit Stürze verhindern kann. Sogar der Beginn und der Verlauf von kognitiven Erkrankungen wie Demenz lassen sich durch regelmäßige Bewegung verzögern, lese ich im Buch „Tanzen ist die beste Medizin“der Psychologin Julia F. Christensen (Rowohlt Polaris). Nicht zu vergessen, die soziale Komponente – dieses großartige Verbundenheitsgefühl, das beim gemeinsamen Tanzen entsteht. Solange man gesund ist, kann man übrigens in jedem Alter anfangen; einige ihrer Schülerinnen, erzählt Esther, sind über 70 und biegsamer als manches junges Mädchen.
Wohin mit dem Bein? Dem Gewicht? Dem Blick? Ich stehe in der Mitte des Saals und versuche, Esthers anmutigen Schritten zu folgen. Strecke die Arme zur Seite, drehe mich ein und noch mal um mich selbst. Wenn ich tanze, das überrascht mich immer wieder, fällt jeglicher Stress von mir ab. Kein Gedanke an schmutzige Wäsche, unfertige
Texte, den unnötigen Streit mit meinem Mann beim Abendessen. Dafür ist in meinem Kopf kein Platz mehr, so sehr ist er mit der Koordination meiner Arme und Beine beschäftigt und damit, nicht in Christina hineinzustolpern, die neben mir ihr Pas de bourrée beendet.
Ich bin unglaublich froh, dem Ballett noch eine zweite Chance gegeben zu haben. Ich liebe diese langen und fließenden Bewegungen, die traumschöne Musik von Tschaikowski und Ravel. Oft habe ich ihre Melodien noch stundenlang im Ohr, auf dem Rad beim Nachhausefahren oder später unter der Dusche. Ja, heute kann ich das Tanzen ganz anders genießen als früher. Der Druck ist verschwunden. Ob ich jemals eine doppelte Pirouette hinkriege wie Carina? Ob ich jemals so hoch springen kann wie Steffen? Eher nicht. Aber das ist okay. Ich gebe mein Bestes – so wie all die anderen. Auch für Esther ist das alles, was zählt. „Es muss ja nicht so aussehen wie in der Staatsoper. Ich bewundere jeden Einzelnen, der einmal die Woche kommt und sein Bein hochkriegt“, antwortet sie mir auf die Frage, ob es für einen Profi wie sie nicht manchmal schrecklich frustrierend ist, mit Laien wie mir zu arbeiten.
Trotzdem schaffe ich es nicht jedes Mal, mich aufzuraffen. Es gibt Abende, da bin ich einfach zu müde oder zu hungrig oder schlichtweg zu faul – mein innerer Schweinehund lässt sich nur schwer überlisten. Aber wenn ich mich überwinde, lohnt es sich jedes einzige Mal. Gegen Ende der Stunde spüre ich nichts mehr von Müdigkeit, Hunger oder Faulheit, sondern bin einfach nur sehr, sehr glücklich. Das geht offenbar nicht nur mir so: Alle in meinem Kurs wirken ausgelassen, lachen miteinander, machen kleine Scherze. „Tanz vergeht in dem Moment, wo er vorbei ist. Aber das Gefühl, das bleibt“, schreibt Julia F. Christensen in ihrem Buch. Ich jedenfalls schwebe nach dem Unterricht die Treppen des Studios hinunter, federleicht, trete mit neuem Schwung in die Pedale meines Fahrrads und trage mein Ballettgefühl die ganze Woche mit mir mit.
» Gegen Ende der Stunde spüre ich nichts mehr von meiner Müdigkeit, sondern bin einfach nur sehr, sehr glücklich «
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» Das Allerwichtigste ist, dass man etwas tut, was man wirklich möchte – und was nicht bloß ein Mittel zum Zweck ist «
Raum. Außerdem hat man schnell Erfolgserlebnisse, dieses „Wow, ich krieg’s ja noch hin“-gefühl. Mit zunehmendem Alter wird man freier, es gibt weniger Vorgaben, was man machen muss oder machen sollte.
Und generell: Wie muss ein Ziel eigentlich gesetzt sein, um es gut erreichen zu können?
Das Allerwichtigste ist, dass man etwas tut, was man wirklich möchte, was langfristig Spaß macht und nicht bloß ein Mittel zum Zweck ist. Und man sollte Ziele verfolgen, die auch machbar sind. Sich also nicht vornehmen, von jetzt auf gleich jeden Tag eine halbe Stunde zu joggen. Über Realisierbarkeit sollte man sich wirklich Gedanken machen – bis hin zur konkreten Planung. Wie schaffe ich es, ein Ziel in meine tägliche Routine einzubauen? Wo bekomme ich beispielsweise die Lebensmittel, die ich gern essen möchte, und mit welcher U-bahn fahre ich zu diesem Laden? Wenn man das so genau plant, landet man bei einem Ziel, das sich mit dem Alltag vereinbaren lässt. Entscheidend ist auch, sich kleine, so konkret wie möglich formulierte Ziele zu setzen, denn auf diese Weise hat man Erfolgserlebnisse.
Was hilft beim Weitermachen?
Intuitiv denkt man: Willensstärke. Doch die Forschung deutet auf etwas anderes hin. Menschen, die besonders gut in der Umsetzung ihrer Vorsätze sind, haben in aller Regel ohnehin gute Lebensgewohnheiten. Sie müssen gar nicht willensstark sein, weil sie ihr Leben so strukturiert haben, dass sie nicht viele innere Kämpfe austragen müssen. Sie machen beispielsweise schon von Kindheit an viel Sport und werden erst gar nicht mit der Verlockung konfrontiert, sich weniger zu bewegen.
Wenn es nicht Willensstärke ist, was erleichtert dann das Durchhalten?
Die effektivste Strategie ist die Kontrolle des eigenen Umfeldes – man reduziert schlicht die Verlockungen. Einfaches Beispiel: gar nicht erst Knabbereien zu Hause haben, wenn ich versuche, auf sie zu verzichten. So kommt man nicht in Situationen, die einen am Durchhalten hindern. Zweitens hilft es, sich intensiv die angenehmen, positiven Dinge vorzustellen, mit denen man belohnt wird, wenn man seinem Ziel näherkommt – etwa gesünder zu werden oder fitter. Das muss man gewissermaßen richtig spüren. So holt man ein fernes, langfristiges Ziel stärker in die Gegenwart und macht sich klar, wofür man das alles tut. Und drittens: kurz warten und bis zehn zählen.
Warum das?
Wir haben die Tendenz, uns impulsiv zu verhalten, gerade wenn wir unter Zeitdruck stehen. Bei der Überlegung, was man essen soll, braucht es zum Beispiel einen Moment, bis man nicht nur an Burger mit Pommes denkt, sondern auch daran, wie gesund eine Alternative wäre. Zählt man bis zehn und lässt sich damit etwas Zeit bei einer Entscheidung, kommen auch andere als nur die impulsiven Argumente auf den Tisch.
Wie überwindet man Durchhänger?
Indem man neue Gewohnheiten aufbaut. Dann bleibt man bei etwas, obwohl sich die anfängliche Euphorie mit der Zeit verloren hat. Dafür kann man sich kleine Stützen in den Alltag einbauen, die einen daran erinnern, was man tun möchte – beispielsweise, indem man sich die Sporttasche einfach direkt neben die Tür stellt. Tut man das konsequent und von Anfang an, kann einem diese Sporttasche über kleine Durchhänger helfen.
Machen Sie selbst das auch so?
Ich habe angefangen zu laufen. Und schaffe es besser, über diese komischen Phasen des Durchhängens hinwegzukommen, wenn ich mir schon am Morgen die Sportsachen anziehe, die Kinder zur Schule bringe und direkt von dort losrenne. So passt das Laufen in meinen Alltag.