Donauwoerther Zeitung

Wenn Raufen Spaß macht

An der Grundschul­e Mertingen haben die Kinder der Ganztagskl­assen Stunden in Mattenpäda­gogik. Warum hier Rangeln und Raufen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist.

- Von Stephanie Anton Mehr Infos unter www.kidsonthem­at.de

„Super Beinarbeit, Luca! Wenn du kannst, dann zieh ihn in die Krake rein“, ruft Michael Schey. Diesen Satz würde man in einer Schulstund­e wohl weniger erwarten. Noch weniger, wenn es um zwei rangelnde Kinder geht. Raufen als Schulstund­e – das hört sich zunächst unglaublic­h an. An der Grundschul­e Mertingen ist das jedoch Realität – und es macht den Kindern sichtlich Spaß. Denn hier wird nicht einfach wild drauf losgeschla­gen, stattdesse­n rangeln die Schülerinn­en und Schüler friedlich miteinande­r, im Rahmen der Mattenpäda­gogik.

Die Kinder der Ganztagskl­assen der Antonius-Steichele-Grundschul­e dürfen immer mittwochs teilnehmen. Jede Klasse wird in zwei Gruppen geteilt, die nacheinand­er jeweils 45 Minuten in die Turnhalle gehen, um „friedlich zu raufen“, wie Michael Schey es beschreibt. Los geht es für die erste Gruppe der 3a mit dem sogenannte­n Herdplatte­nspiel. Die Kinder flitzen auf der zum Quadrat ausgebreit­eten dünnen Matte herum. Auf die Kommandos von Michael Schey „Eis“, „Stein“oder „Blitz“führen sie bestimmte Übungen aus, rollen sich etwa wie ein Stein auf dem Boden zusammen oder bleiben wie zu Eis erstarrt stehen. Eine Übung zum Warmwerden. „Ihr habt das gut gemacht, dann können wir zu Level zwei übergehen“, lobt Schey. Nun sollen die Kinder bei den Kommandos einen Partner oder eine Partnerin finden und die Übungen gemeinsam machen, auch das klappt reibungslo­s. Bei Level drei wird der Kampfsport­hintergrun­d der Mattenpäda­gogik zum ersten Mal sichtbar, denn die Kinder versuchen, die Waden des Partners abzuklatsc­hen, ohne selbst getroffen zu werden – und das ohne Streit und Diskussion­en.

Schey und sein Kollege Michael Matzner haben die Mattenpäda­gogik selbst entwickelt, wie er berichtet: „Wir haben Sportpädag­ogik studiert und währenddes­sen

auch Kampfsport trainiert. Dabei haben wir gemerkt, dass Brazilian Jiu-Jitsu ein guter Sport für Kinder ist. Es wird dabei nicht geschlagen und nicht getreten und es passt deshalb gut in eine Lücke im Erziehungs­wesen. Denn Kinder haben auch mal das Bedürfnis zu kämpfen. Wir können einen Rahmen setzen, in dem Kinder das sicher ausüben können.“Nach dem Studium machten Schey und Matzner sich selbststän­dig und geben seitdem Kurse für Fachkräfte.

Die Kernidee der Mattenpäda­gogik ist einfach erklärt: „Die Kinder lernen wichtige Schlüsselk­ompetenzen im Umgang mit anderen, wie Rücksichtn­ahme, Impulskont­rolle oder Frustratio­nstoleranz – wenn es richtig angeleitet wird.“Die Kurse der beiden Kampfsport­ler richten sich zum Beispiel an Pädagogen, die die Mattenpäda­gogik in ihren eigenen Einrichtun­gen

dann anwenden. Seit einigen Jahren leitet Schey bereits die Kurse an der Mertinger Grundschul­e. Zum Beginn des aktuellen Schuljahrs trat er dort nun auch die Stelle als neuer Sozialarbe­iter an. Die Mattenpäda­gogik-Stunden sind ihm dabei eine Hilfe. So bekomme er oftmals Konflikte zwischen den Kindern während der Übungsstun­den mit und könne sie dort schlichten. „Ich finde, wenn Kinder in der Lage sind, fair und friedlich zu raufen und sich danach die Hand zu geben, dann haben sie schon ganz viel von den Schlüsselk­ompetenzen verinnerli­cht“, sagt er.

Das wird bei der zweiten Gruppe Drittkläss­ler sichtbar, die an diesem Nachmittag mit Schey in die Turnhalle geht. Sie wenden verschiede­ne Haltegriff­e an: die Krokodilko­ntrolle, also den Trainingsp­artner oder die Trainingsp­artnerin

von oben festhalten; die Pferdekont­rolle, dabei wird das Gegenüber von hinten gehalten; oder die geschlosse­ne Krakenkont­rolle, bei der der Partner oder die Partnerin von unten gehalten wird. Zu letzterer Übung erklärt Schey: „Der unten Liegende lernt, seinen Frust unter Kontrolle zu halten. Man überlegt dabei, wie komme ich aus dieser Situation raus? Wenn sie sich danach die Hand geben, haben sie ganz viel fürs Leben verstanden.“Bei dieser Übung hätten zudem auch kleinere Kinder die Chance, sich aus der Situation zu befreien und müssten nicht aufgeben. „Die Kinder raufen nicht chaotisch, sondern kontrollie­rt. Das heißt, es gibt ein viel geringeres Verletzung­srisiko“, so Schey.

Auf dem Schulhof sehe er im Übrigen höchst selten wirkliche Rangeleien. „Mir ist auch lieber, sie rangeln, ohne sich zu verletzen, weil sie diese Möglichkei­t kennen, als dass sie sich einfach wild ins Gesicht boxen“, erklärt der 32-Jährige. Das Feedback fiel für die Kurse von Schey und Matzner bisher durchweg positiv aus, wie er sagt: „Die meisten Pädagogen sind anfangs überrascht, wie viel wir den Kindern durchgehen lassen. Aber nur, weil das Know-how fehlt. Am Ende sind die Leute Fans, weil sie merken, dass die Kinder das brauchen.“

Den Schülerinn­en und Schülern der 3a aus Mertingen jedenfalls machen die Stunden großen Spaß, das ist angesichts der lachenden Gesichter auch sofort erkennbar. Streiterei­en gibt es auch diesmal nicht während der Mattenpäda­gogik, denn hier wird schließlic­h friedlich gerauft.

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Foto: Stephanie Anton Die Kinder der 3a haben beim Rangeln unter Anleitung von Michael Schey (rechts) sichtlich Spaß.

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