Wenn Raufen Spaß macht
An der Grundschule Mertingen haben die Kinder der Ganztagsklassen Stunden in Mattenpädagogik. Warum hier Rangeln und Raufen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist.
„Super Beinarbeit, Luca! Wenn du kannst, dann zieh ihn in die Krake rein“, ruft Michael Schey. Diesen Satz würde man in einer Schulstunde wohl weniger erwarten. Noch weniger, wenn es um zwei rangelnde Kinder geht. Raufen als Schulstunde – das hört sich zunächst unglaublich an. An der Grundschule Mertingen ist das jedoch Realität – und es macht den Kindern sichtlich Spaß. Denn hier wird nicht einfach wild drauf losgeschlagen, stattdessen rangeln die Schülerinnen und Schüler friedlich miteinander, im Rahmen der Mattenpädagogik.
Die Kinder der Ganztagsklassen der Antonius-Steichele-Grundschule dürfen immer mittwochs teilnehmen. Jede Klasse wird in zwei Gruppen geteilt, die nacheinander jeweils 45 Minuten in die Turnhalle gehen, um „friedlich zu raufen“, wie Michael Schey es beschreibt. Los geht es für die erste Gruppe der 3a mit dem sogenannten Herdplattenspiel. Die Kinder flitzen auf der zum Quadrat ausgebreiteten dünnen Matte herum. Auf die Kommandos von Michael Schey „Eis“, „Stein“oder „Blitz“führen sie bestimmte Übungen aus, rollen sich etwa wie ein Stein auf dem Boden zusammen oder bleiben wie zu Eis erstarrt stehen. Eine Übung zum Warmwerden. „Ihr habt das gut gemacht, dann können wir zu Level zwei übergehen“, lobt Schey. Nun sollen die Kinder bei den Kommandos einen Partner oder eine Partnerin finden und die Übungen gemeinsam machen, auch das klappt reibungslos. Bei Level drei wird der Kampfsporthintergrund der Mattenpädagogik zum ersten Mal sichtbar, denn die Kinder versuchen, die Waden des Partners abzuklatschen, ohne selbst getroffen zu werden – und das ohne Streit und Diskussionen.
Schey und sein Kollege Michael Matzner haben die Mattenpädagogik selbst entwickelt, wie er berichtet: „Wir haben Sportpädagogik studiert und währenddessen
auch Kampfsport trainiert. Dabei haben wir gemerkt, dass Brazilian Jiu-Jitsu ein guter Sport für Kinder ist. Es wird dabei nicht geschlagen und nicht getreten und es passt deshalb gut in eine Lücke im Erziehungswesen. Denn Kinder haben auch mal das Bedürfnis zu kämpfen. Wir können einen Rahmen setzen, in dem Kinder das sicher ausüben können.“Nach dem Studium machten Schey und Matzner sich selbstständig und geben seitdem Kurse für Fachkräfte.
Die Kernidee der Mattenpädagogik ist einfach erklärt: „Die Kinder lernen wichtige Schlüsselkompetenzen im Umgang mit anderen, wie Rücksichtnahme, Impulskontrolle oder Frustrationstoleranz – wenn es richtig angeleitet wird.“Die Kurse der beiden Kampfsportler richten sich zum Beispiel an Pädagogen, die die Mattenpädagogik in ihren eigenen Einrichtungen
dann anwenden. Seit einigen Jahren leitet Schey bereits die Kurse an der Mertinger Grundschule. Zum Beginn des aktuellen Schuljahrs trat er dort nun auch die Stelle als neuer Sozialarbeiter an. Die Mattenpädagogik-Stunden sind ihm dabei eine Hilfe. So bekomme er oftmals Konflikte zwischen den Kindern während der Übungsstunden mit und könne sie dort schlichten. „Ich finde, wenn Kinder in der Lage sind, fair und friedlich zu raufen und sich danach die Hand zu geben, dann haben sie schon ganz viel von den Schlüsselkompetenzen verinnerlicht“, sagt er.
Das wird bei der zweiten Gruppe Drittklässler sichtbar, die an diesem Nachmittag mit Schey in die Turnhalle geht. Sie wenden verschiedene Haltegriffe an: die Krokodilkontrolle, also den Trainingspartner oder die Trainingspartnerin
von oben festhalten; die Pferdekontrolle, dabei wird das Gegenüber von hinten gehalten; oder die geschlossene Krakenkontrolle, bei der der Partner oder die Partnerin von unten gehalten wird. Zu letzterer Übung erklärt Schey: „Der unten Liegende lernt, seinen Frust unter Kontrolle zu halten. Man überlegt dabei, wie komme ich aus dieser Situation raus? Wenn sie sich danach die Hand geben, haben sie ganz viel fürs Leben verstanden.“Bei dieser Übung hätten zudem auch kleinere Kinder die Chance, sich aus der Situation zu befreien und müssten nicht aufgeben. „Die Kinder raufen nicht chaotisch, sondern kontrolliert. Das heißt, es gibt ein viel geringeres Verletzungsrisiko“, so Schey.
Auf dem Schulhof sehe er im Übrigen höchst selten wirkliche Rangeleien. „Mir ist auch lieber, sie rangeln, ohne sich zu verletzen, weil sie diese Möglichkeit kennen, als dass sie sich einfach wild ins Gesicht boxen“, erklärt der 32-Jährige. Das Feedback fiel für die Kurse von Schey und Matzner bisher durchweg positiv aus, wie er sagt: „Die meisten Pädagogen sind anfangs überrascht, wie viel wir den Kindern durchgehen lassen. Aber nur, weil das Know-how fehlt. Am Ende sind die Leute Fans, weil sie merken, dass die Kinder das brauchen.“
Den Schülerinnen und Schülern der 3a aus Mertingen jedenfalls machen die Stunden großen Spaß, das ist angesichts der lachenden Gesichter auch sofort erkennbar. Streitereien gibt es auch diesmal nicht während der Mattenpädagogik, denn hier wird schließlich friedlich gerauft.