Immer no ois zua
In keiner Region Deutschlands dauert der Corona-Lockdown so lange an wie im Berchtesgadener Land. Bereits im Oktober machte der oberbayerische Landkreis dicht. Doch die Zahlen stiegen und stiegen zunächst immer weiter. Warum eigentlich?
Berchtesgaden Wie schnell der Familienvater recht behalten soll, kann an diesem Oktobertag niemand ahnen. Zusammen mit seiner Tochter steht er auf den Stufen vor dem „Bauchgfui“, einem Restaurant im Zentrum von Berchtesgaden. Eigentlich ist es ein guter Tag, um in der Herbstsonne auf der Terrasse zu sitzen und die Aussicht auf die Alpengipfel zu genießen. Doch daraus wird nichts. „Wir holen uns jetzt ein letztes Mal etwas zu essen“, erzählt die Jugendliche, „die nächsten Wochen dürfen wir ja nicht mehr raus.“Ihr Vater behält unruhig die Zeit im Blick. Es ist halb zwei. Um Punkt 14 Uhr müssen sie zu Hause sein, dann beginnen die Ausgangsbeschränkungen. Kurz bevor der Mann die braunen Papiertüten entgegennimmt, spricht er das aus, was heute – rund vier Monate später – völlig skurril wirkt: „Dieser erste TeilLockdown ... ich glaube, das wird in nächster Zeit auch anderen Landkreisen passieren. Aber ich bin optimistisch, dass wir die Zahlen wieder in den Griff kriegen. Es sind ja nur zwei Wochen, das schaffen wir.“
Wer hätte gedacht, wie sehr er sich täuschen wird.
Am 20. Oktober 2020 passiert im oberbayerischen Berchtesgadener Land das, wovor sich die Menschen in Bayern monatelang so gefürchtet haben. Die Inzidenzzahlen sind dramatisch gestiegen, der bundesweite Rekordwert für den Landkreis liegt bei 272,8, drastisch über dem damaligen Grenzwert von 50. Das Landratsamt beschließt einen regionalen Lockdown. Es gelten die strengsten Corona-Maßnahmen in Deutschland seit dem nationalen Shutdown im Frühjahr: Ausgangsbeschränkungen, Notbetreuung in Schulen,
Freizeiteinrichtungen aller Art müssen schließen. Für zwei Wochen sind die Maßnahmen zunächst angedacht. Sinken die Zahlen, würde es wieder Lockerungen geben. Doch dazu wird es nicht kommen.
Seit jenem Dienstag im Oktober befindet sich das Berchtesgadener Land in Deutschlands längstem Lockdown. Faktisch müssen sich die Einheimischen zwei Wochen länger einschränken als alle anderen Menschen in Deutschland. Doch woran lag es, dass die Situation derart eskalierte? Und was macht es mit einer Region, wenn der Alltag von einem Tag auf den anderen plötzlich durcheinandergewirbelt wird? Wie geht es den Einheimischen nach diesen vielen Monaten voller Entbehrungen?
Zu Beginn zumindest scheinen das Verständnis und die Zuversicht der Bürger noch groß zu sein. An jenem 20. Oktober sind nur noch wenige Menschen um die Mittagszeit in der idyllischen Altstadt von Berchtesgaden unterwegs. Umschwirrt werden sie von Reportern und Fernsehteams, die alle noch ein paar Worte von den Einheimischen ergattern wollen. Polizisten patrouillieren grüppchenweise durch den Ort, Café-Betreiber stapeln Stühle im Außenbereich aufeinander, Ladenbesitzer verräumen ihre Ware ins Innere ihrer Geschäfte. „Ich habe vollstes Verständnis für die Maßnahmen“, sagt eine Seniorin in das Mikrofon eines Fernsehjournalisten. „Wir unterstützen den Lockdown, das Wichtigste ist, dass wir jetzt alle gesund bleiben“, sagt ein älteres Ehepaar.
Doch wären sie auch so zuversichtlich gewesen, wenn sie gewusst hätten, welch harte Monate noch vor ihnen liegen?
Besonders im Berchtesgadener Land spitzt sich die Corona-Lage in den folgenden Wochen immer weiter zu. Am 9. Januar erreicht die Sieben-Tage-Inzidenz ihren absoluten Höchstwert von 348,3.
Mittlerweile hat sich die Lage auch dort gebessert. Doch so schnell die Zahlen im Dezember und Januar nach oben geschossen sind, so langsam sind sie gesunken. Bis Dienstag noch leuchtete der Landkreis auf der Corona-Karte des RobertKoch-Instituts (RKI) in Dunkelrot auf. Am Donnerstag lag die Inzidenz bei 96,3 pro 100000 Einwohner in sieben Tagen. Im Vergleich dazu sind viele Landkreise in Schwaben bereits orange und hellgelb eingefärbt. Dort vermelden die Behörden bereits Inzidenzwerte weit unter 50. Im benachbarten oberbayerischen Neuburg-Schrobenhausen liegt der Wert am Donnerstag gar bei 21,6, im Ostallgäu bei 23,4. Warum also ist die Lage im Berchtesgadener Land seit Oktober derart schwierig? Warum sind die Zahlen nach wie vor auffallend hoch?
Ein Anruf bei CSU-Landrat Bernhard Kern im Landratsamt in Bad Reichenhall. Mit tiefer Stimme und oberbayerischem Dialekt zählt der 52-Jährige auf, welche Ursachen für die hohen Inzidenzwerte er und seine Behörde mittlerweile ausgemacht haben. „Was uns erstens sicherlich nicht gutgetan hat, waren die Lockerungen an den Feiertagen“, sagt Kern. „Rund zehn Tage nach Weihnachten und Silvester sind die Zahlen extrem nach oben geschnellt.“Viele hätten sich vermutlich nicht auf einmal mit der Großfamilie, sondern stattdessen im kleinen Kreis mal mit der Oma, mal mit den Eltern und dann wieder mit den Freunden getroffen. „Da waren bestimmt auch einige Infektionen dabei.“Zweitens hätten sich viele Infektions-Cluster in die Betriebe und die Büros verlagert, wie das örtliche Gesundheitsamt herausgefunden habe. „Als dritte Ursache vermuten wir aber die Nähe zu Österreich und Tschechien. In den Grenzregionen sind die Inzidenzen sehr hoch.“Dort seien einfach nach wie vor viele Pendler unterwegs, trotz Lockdown sei die Mobilität entlang der Grenze vergleichsweise hoch. Ein Problem, mit dem jedoch nicht nur das Berchtesgadener Land konfrontiert ist.
Wirft man noch einmal einen Blick auf die Corona-Karte des RKI, sieht man, wie sich an der bayerischen Ostgrenze ein roter Streifen entlangzieht, immer wieder unterbrochen von dunkelroten Stellen. Es sind alles Landkreise, die nach wie vor mit dramatisch hohen Inzidenzwerten zu kämpfen haben: Tirschenreuth Stand Donnerstag mit 333,1, Wunsiedel im Fichtelgebirge mit 256,0, Regen mit 139,5 und Rottal-Inn mit 124,3. Doch nicht allein die hohen Inzidenzwerte bereiten Landrat Kern in diesem Zusammenhang Sorgen. Vielmehr sind es die Corona-Mutationen, die vielerorts in Tschechien und Österreich lauern und die Infektionszahlen sprunghaft wieder nach oben treiben. „Die Mutanten machen mir Kopfzerbrechen, wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein. Wir sind auf einem guten Weg, das dürfen wir uns keinesfalls kaputt machen.“
Mutationen, Infektionszahlen und Corona-Maßnahmen – es ist nur eine Seite der Medaille, über die Bernhard Kern sprechen will. Die andere ist die Stimmungslage seiner Bürger: „Wir befinden uns 14 Tage länger im Lockdown als alle anderen, das macht uns Schwierigkeiten, die Stimmung der Menschen hoch zu halten. Denn langsam wird es zäh.“Das weiß auch Michaela Kaniber (CSU), bayerische Landwirtschaftsministerin und Abgeordnete aus dem Stimmkreis Berchtesgadener Land. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt sie: „Natürlich ist das für alle hier eine extrem belastende Situation. Die Dauer des Lockdowns zehrt schon an den Nerven. Es gibt uns aber allen Hoffnung, dass jetzt die Zahlen sinken. Das zeigt, dass die Einschränkungen nicht umsonst waren.“Und Landrat Bernhard Kern ergänzt: Wenn nur wieder Schulen, Kitas und erste Geschäfte aufmachen dürften, würde das die angespannte Stimmung um einiges heben, mutmaßt er. „Ich sehe da durchaus Möglichkeiten, Lockerungen umzusetzen – solange jeder mitmacht und sich an die Regularien hält.“Wie am Mittwochabend jedoch bekannt wurde, wird der bundesweite Lockdown zunächst bis 7. März verlängert. Frühzeitig dürfen in Bayern ab 22. Februar nur einige Schulen und Kitas öffnen und ab 1. März Friseursalons. Erste Lockerungen „wären meiner Meinung nach ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt Kern. „Auch ich würde aufatmen können. Jeder von uns wäre doch froh, wenn er mal wieder ohne Einschränkungen raus dürfte.“
Doch egal, wie lange der Lockdown tatsächlich noch andauern wird: Bernhard Kern ist nach wie vor überzeugt, im vergangenen Oktober in Zusammenarbeit mit den Behörden richtig gehandelt zu haben. „Wir haben es damals nicht anders machen können. Die Zahlen gingen von einem auf den anderen Tag komplett nach oben. Doch glauben Sie mir: Die ganze Kritik an unserem Entschluss war und ist schwierig auszuhalten.“Die Stimmung werde immer gereizter, die Kritik lauter, der Druck größer.
Verfolgt man Beiträge in den sozialen Netzwerken über den Lockdown im Berchtesgadener Land, so klingt auch dort der Ton ruppiger. Schrieben im Oktober einige Nutzer noch „Bitte haltet euch alle an die Maßnahmen. Dann schaffen wir das alle zusammen“, werden mittlerweile Kommentare wie dieser veröffentlicht: „Unsere Geschäfte hier sind alle kaputt ... finanzielle Hilfen Fehlanzeige. Wollt ihr jetzt für immer so weitermachen?“
Eine Kritik, die Olya Linnberg nachvollziehen kann. Auch vier Monate später kann sich die Geschäftsführerin mehrerer Hotels im Berchtesgadener Land noch gut an den 20. Oktober erinnern. An ihre Gäste, die Hals über Kopf abreisen mussten, an die Autoschlangen der Touristen, die sich über die Landstraßen in Richtung Autobahn schoben. „Ich war sehr enttäuscht, wie das alles abgewickelt wurde“, erzählt die 32-Jährige mit den hellblonden Haaren am Telefon. „Wir Unternehmer hätten viel früher Bescheid bekommen müssen. Das war für uns wirklich fatal.“Denn von einem Tag auf den anderen seien alle Gastronomie- und Hotelbetriebe auf Vorräten, Lebensmitteln und Kosten sitzen geblieben, sagt Linnberg, die zugleich stellvertretende Kreisvorsitzende des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga ist.
Von der brenzligen Lage berichtet auch Ministerin Kaniber und fordert deshalb: „Unsere Unternehmer brauchen jetzt dringend die lange zugesagten Hilfsgelder. Ich habe den in Bayern zuständigen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger
Der Inzidenzwert steigt bis auf 348,3
Manche Betriebe fürchten, nie wieder öffnen zu können
noch mal gebeten, die Auszahlung zu beschleunigen. Wenn die Politik Soforthilfen beschließt, dann muss die Auszahlung in Tagen und Wochen möglich sein und nicht erst in Monaten.“Diese Gelder wären auch eine Hilfe für Unternehmer wie Olya Linnberg: „Wir alle leben vom Tourismus, wir haben eine harte Zeit hinter uns.“Linnberg weiß von vielen Kollegen, die sogar anzweifeln, ihre Häuser und Gaststätten jemals wieder öffnen zu können, so groß seien die finanziellen Verluste mittlerweile. Das Problem sei gar nicht mal der Lockdown an sich, sagt Linnberg dazu. „Sondern dass er immer wieder verlängert wird und wir uns auf nichts einstellen können. Man macht sich jedes Mal Hoffnungen, und dann kommt wieder ein Rückschlag. Uns fehlt es vollkommen an Planungssicherheit.“
Doch trotz aller Sorgen hat die junge Frau ihren Optimismus nicht verloren. „Nicht alles war in dieser Zeit nur schlecht“, sagt sie. Die Pandemie habe ihr als Unternehmerin und Mutter gezeigt, dass jede Krise auch etwas Gutes haben kann. „Ich habe mein Kind so oft wie nie gesehen. Ich habe gemerkt, welche Mitarbeiter loyal zu mir stehen, und gelernt, dass man auch schwierige Zeiten überstehen kann.“Es sei ihr eine Lehre gewesen, dass eine Pandemie von heute auf morgen alles verändern könne. „Heute weiß ich so einfache Dinge wie Essengehen oder ins Kinogehen viel mehr wertzuschätzen. Diese Wertschätzung und diesen Respekt hat unsere ganze Branche verdient.“
Es ist ein Wunsch, der möglicherweise bereits in Erfüllung zu gehen scheint. So ist zwischen den vielen kritischen und klagenden Kommentaren in den sozialen Netzwerken zum Beispiel auch Folgendes zu lesen: „Hoffentlich haltet ihr durch! Wir möchten unser innigst geliebtes Berchtesgaden im Herbst mit allen Geschäften und Gastronomiebetrieben in alter Frische wiedersehen!“Oder: „Eines der schönsten Fleckchen Erde, die ich kenne und regelmäßig besuche. Ich hoffe, ihr haltet es durch ...“