Fakten schaffen nach Gutdünken
Das Theater Ulm bringt Elfriede Jelineks „Am Königsweg“auf die Bühne – zu sehen natürlich nur virtuell
Ulm Der Kaiser ist nackt. Er hat gar nichts an, erkennt das am Wegesrand stehende Kind in Hans-Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. In Benjamin Junghans’ Inszenierung von Elfriede Jelineks Sprachteppich „Am Königsweg“am Theater Ulm trägt der König (Rudi Grieser) Unterwäsche und zeitweise ein transparentes weißes Gewand. Und doch setzt sich die Metapher vom nackten Kaiser, der seine Unfähigkeit für sein Amt nicht erkennen will, unweigerlich in den Kopf des Zuschauers. Der sitzt zu Hause im Wohnzimmer oder im Büro am Computer und beobachtet den Live-Stream, den das Theater Ulm zum Jelinek-Stück anbietet.
„Am Königsweg“hätte im Frühjahr Premiere am Theater Ulm feiern sollen und ist nun aufgrund der pandemiebedingten Schließung der Theater ohne Publikum online zu erleben.
Die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek begann in der Nacht nach Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten, „Am Königsweg“zu schreiben; die Uraufführung fand im Herbst 2017 statt. Dass Junghans’ Inszenierung von „Am Königsweg“jetzt – direkt nach der Abwahl Trumps – zu erleben ist, wirkt wie eine unfreiwillige Ironie, oder auch wie ein österreichisches „Derblecken“. Freilich: Jelineks Text ist – wie Junghans’ szenische Umsetzung – auf Donald Trump gemünzt. Die Golfspiel-Szenen wirken wie aus dem Comic-Heftchen.
Es wäre aber viel zu kurz gegriffen, sich nur über die Trump-Persiflage zu amüsieren. Wer genauer hinschaut, merkt schnell: Es geht um Selbstinszenierung, um Selbstoptimierung, um das Schaffen von Fakten und darum, Menschen von den selbstgeschaffenen Fakten zu überzeugen. Und so gesehen ist „Am Königsweg“bei aller Skurrilität ein sehr nachdenklich machender Text, der auf viele Akteure der Weltpolitik gemünzt sein kann und ebenso auf Promis und deren eigene Show. Dort, wo der Text am intensivsten ist, geht es um Gewalt, um ein „jeder gegen jeden“, um postfaktische Politik und um Kalkulieren und Taktieren.
„Am Königsweg“webt Stimmen und Bilder ineinander. Biblische Szenen, mitunter blasphemisch, eine antike blinde Seherin voll Pathos und poetischer Sprache (Silva Bieler), mit der sich Elfriede Jelinek identifiziert. Daneben agieren Marie Luise Kerkhoff und Tini Prüfert mit befreiter Spielfreude im Labyrinth der Worte und Sätze, das bewusst auf eine klare Handlung und auf eine schlüssige Struktur verzichtet.
Das Experiment eines ersten Live-Streams am Theater Ulm zeigt gleichzeitig aber auch Vor- und Nachteile des am Computer beobachteten Theaterstücks auf: Vieles fehlt. Das Gespräch mit anderen Theaterbesuchern in der Pause oder nach dem Stück zum Beispiel – und die Frage nach der Garderobe für den Abend stellt sich nicht einmal. Man sitzt anders, schenkt sich etwas zu trinken ein – Livestream holt den Zuschauer nicht wie ein Theaterbesuch aus dem Alltag, ist eher wie ein Fernsehabend. Anstrengend ist die Möglichkeit, vier Kameraeinstellungen gleichzeitig zu verfolgen. Man entscheidet sich für eine – und braucht doch eigentlich meist die Einstellung der Totalen, um zu verstehen, was auf der Bühne vor sich geht. Hilfreich: Der Live-Chat, der bei technischen Problemen und Fragen zum neuen Format Unterstützung anbietet. Gleichzeitig liefert er die eingetippten Kommentare und Reaktionen der Zuschauer ganz unmittelbar.
Livestream „Am Königsweg“gibt es als Stream auch am 28. und 29. November. Tickets sind online über das Theater Ulm erhältlich; zuschalten können sich maximal 350 Zuschauer.