Die CoronaJäger
Das Virus verbreitet sich rasant. In den Gesundheitsämtern versucht man verzweifelt, die Kontaktpersonen der Infizierten zu ermitteln und die Übertragung einzudämmen. Eine Geschichte über einen Job am Limit und die Frage, wie lange das noch gut geht
Dillingen Die Detektivarbeit beginnt in einem nüchternen Büro. Schreibtische. Deckenstrahler. PVC-Fußboden. Telefone. Durch das Fenster blickt man auf einen bergseeblauen Herbsthimmel, der so gar nicht zu der trüben Stimmung passen will, die das ganze Land erfasst hat. In diesem Zimmer geht sie also los, die Jagd. Auf einen Feind, der unsichtbar ist. Und der seit Monaten unser ganzes Leben verändert.
Birgit Rieß rückt ihr Headset zurecht, bevor sie anfängt zu erzählen. Auf dem Telefon vor ihr kleben gelbe Notizzettel, über der Rückenlehne ihres Bürostuhls baumelt ein geblümter Schal. „Die Arbeit ist sehr wichtig. Aber auch sehr kräftezehrend“, sagt sie. Rieß ist im Gesundheitsamt der Stadt Dillingen die Frau für schlechte Nachrichten. Sie ist es, die die Menschen anruft, um ihnen zu sagen, dass ihr CoronaTest positiv ausgefallen ist. Und sie ist es, die etwas in Gang setzt, über das in diesen Tagen überall gesprochen wird: die Kontaktnachverfolgung. Die Detektivarbeit also, mit der die Verbreitung des Virus eingedämmt werden soll. Nur: Das wird von Tag zu Tag schwieriger.
An jenem kalten Novembermorgen, an dem Birgit Rieß im beschaulichen Dillingen an ihrem Schreibtisch sitzt, verkündet das Robert Koch-Institut wieder einen neuen Corona-Höchstwert. 19900 NeuInfektionen werden an jenem Tag gemeldet, 24 Stunden später sind es erstmals mehr als 20000. Diese schnell steigenden Zahlen haben massive Auswirkungen auf die Arbeit
in den Behörden. Anfang November haben 41 von 375 deutschen Gesundheitsämtern dem Robert Koch-Institut eine aktuelle oder drohende Überlastung gemeldet. Also etwa jede neunte Behörde. Am 20. Oktober lagen erst 22 solcher Fälle vor.
Das große Problem dabei ist: Die Engpässe betreffen besonders häufig die Kontaktnachverfolgung, also jenes Instrument, das die Welle, die das ganze Land derzeit mit voller Wucht trifft, durch das Aufbrechen von Infektionsketten abflachen soll. Viele Ämter seien nicht mehr in der Lage, die Kontakte jedes Einzelnen nachzuverfolgen, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel vor wenigen Tagen. Sie macht deutlich: „Weil viele Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung nicht mehr schaffen, haben wir jetzt eine Situation, bei der in 75 Prozent der Fälle, also drei Viertel der Fälle, die Infektionen nicht mehr zugeordnet werden können.“
Der Appell des Robert Koch-Instituts klingt beinahe flehentlich: Ja, die Überlastung der Gesundheitsämter sei ernst und besorgniserregend. Doch sie müssten jede Anstrengung aufrechterhalten und dürften nicht aufgeben. Nur: Wie soll das gehen, wenn viele Ämter bereits am Limit sind? Was passiert, wenn die Zahlen weiter in einem derart rasanten Tempo steigen? Wird es dann noch möglich sein, einzelne Kontakte zu verfolgen?
Wenn Birgit Rieß vom Dillinger Gesundheitsamt einen positiv Getesteten anruft, dann geht es vor allem um die Frage, wen er in den vergangenen Tagen getroffen hat – und hätte anstecken können. „In der Regel können sich die Menschen schon noch erinnern, mit wem sie Kontakt hatten. Der Zeitraum, in dem eine Ansteckung erfolgen kann, ist ja nicht so groß“, sagt Rieß. Wenn sie die Informationen hat, verteilt sie die Liste mit den Kontakten an ihre Kollegen. Und dann beginnt das Hinterhertelefonieren.
Einer, der das übernimmt, ist der Bundeswehrsoldat Hermann S. Er wurde – wie so viele Soldaten in ganz Deutschland – gebeten, bei der Kontaktnachverfolgung in Dillinge gen zu helfen und arbeitet nun als sogenannter Contact-Tracer. Seinen Nachnamen möchte der junge Mann mit den dunkelblonden Haaren nicht in der Zeitung lesen. „Die erste Frage ist immer die: Wie eng war der Kontakt mit der infizierten Person?“, erzählt er. Als Kontaktperson 1 gilt demnach, wer sehr engen Kontakt hatte. Als Kontaktperson 2 jemand, der genügend Abstand eingehalten hat, keinen direkten Körperkontakt hatte und nicht lange mit dem positiv Getesteten gesprochen hat. Solchen Personen wird ein Test empfohlen.
Wer allerdings als Kontaktperson 1 eingestuft ist, der muss einen Test machen und überdies in Quarantäne. „Die meisten hatten im Freundeskreis Kontakt zu einer infizierten Person. Oder in der Arbeit“, sagt Hermann S., der an diesem Vormittag in seinem Flecktarn an seinem Schreibtisch sitzt. Dass Soldaten bei der Kontaktnachverfolgung helfen, ist mittlerweile in vielen Ämtern Usus. Ohne deren Unterstützung wären die Aufgaben vielerorts auch gar nicht mehr zu schaffen.
Die Reaktionen der Menschen, mit denen der Contact-Tracer jeden Tag telefoniert, sind höchst unterschiedlich. Die einen, erzählt er, nehmen die Info, dass sie sich angesteckt haben könnten, ziemlich gefasst hin, andere sind völlig aufgelöst – und einige fangen an, zu diskutieren. Weil Corona ihrer Ansicht nach nur ein Hirngespinst ist.
Solche Fälle landen bei Dr. UtaMaria Kastner, der Leiterin des Gesundheitsamtes. „Ich kann da nicht die Contenance bewahren. Manchmal muss ich schon deutlich werden“, sagt Kastner, blonde Haare, roséfarbener Blazer, der Schal im selben Ton. Kastner steht im Flur vor ihrem Büro im ersten Stock, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und geht ein paar Schritte, während sie über die Diskussionen mit Kontaktpersonen spricht.
Einige würden nicht einsehen, dass sie für zwei Wochen in Quarantäne müssten, wenn der Test negativ war, sagt sie. „Aber die Erkrankung kann ja noch später ausbrechen. Und falls das der Fall ist, sollten sie keinen Kontakt zu anderen haben.“Manche würden dann anfangen, zu verhandeln. Ein bisschen wie auf dem Markt sei das, meint Kastner. „Sie sagen dann zum Beispiel plötzlich, dass der Kontakt zu dem Infizierten doch nicht so eng war, wie sie es zuvor am Telefon dem Contact-Tracer geschildert haben“, sagt Kastner und schüttelt den Kopf. Man merkt ihr an, dass es auch für sie anstrengende Zeiten sind.
Wie anstrengend die Zeiten sind, das weiß auch Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml. „Die steigende Zahl der Infizierten und die damit verbundene hohe Zahl an Kontaktpersonen stellt die Gesundheitsämter vor sehr große Herausforderungen“, sagt sie gegenüber unserer Redaktion. Welche Auswirkungen das hat, also, in wie vielen Fällen eine Kontaktnachverfolgung überhaupt noch möglich ist, das könne man allerdings nicht sagen. Genaue Daten lägen dem bayerischen Gesundheitsministerium nicht vor, heißt es. „Aufgrund der immensen Arbeitsbelastung der Ämter sehen wir von einer detaillierten Anfrage ab, um die Ressourcen für die Kontaktnachverfolgung nicht weiter zu belasten“, teilt Huml mit. Die erhebliche personelle Verimmer stärkung – durch Unterstützungskräfte weiterer Ressorts, aber teilweise auch durch die Bundeswehr oder Polizeikräfte – solle aber sicherstellen, dass die Kontaktpersonennachverfolgung auch weiterhin durchgeführt werden kann.
Kommt das Gesundheitsamt in Dillingen mit der Nachverfolgung noch hinterher? „Meist schaffen wir es noch, alle zu erreichen“, sagt Gesundheitsamtschefin Kastner. Sie macht aber auch deutlich: „Wir sind bei der Kontaktnachverfolgung jetzt am absoluten Limit.“
Wenn also die Zahlen weiter steigen – und davon müsse man derzeit ausgehen – dann gehe es nicht mehr. Innerhalb von sieben Tagen habe es im Landkreis Dillingen zuletzt 179 Neuinfektionen gegeben. „Das besorgt mich“, fährt Kastner fort und tritt aus dem Flur, wo sich Büro an Büro reiht, ins Treppenhaus. Die Zahlen würden von Tag zu Tag schwanken, manchmal seien es zehn, manchmal mehr als 30 neue Fälle – und an jedem Fall hängen viele Kontakte, manchmal ist es nur eine Handvoll, manchmal aber sind es bis zu 100 Personen, die angerufen werden müssen.
Insgesamt gibt es in der Dillinger Behörde 19 Mitarbeiter, die sich um die Kontaktverfolgung kümmern – inklusive Bundeswehrsoldaten und Ehrenamtliche. In den kommenden Tagen soll die Mannschaft auf 25 Personen erhöht werden, auch die Polizei wird mithelfen, damit die Einzelfallnachverfolgung weiterhin funktioniert.
Inzwischen gibt es allerdings eini
Experten, die eine solche Einzelfallverfolgung angesichts der Überlastung vieler Gesundheitsämter für nicht mehr zielführend halten. Etwa der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach.
Es müsse stattdessen eine Cluster-Verfolgung geben, sagt Lauterbach im Gespräch mit unserer Redaktion. Seiner Ansicht nach müsste die Sache so laufen: Wenn ein neuer Corona-Fall auftaucht, wird systematisch abgefragt, ob die Person in den fünf Tagen vor der Ansteckung zu einem bestimmten Zeitpunkt eng mit vielen anderen Menschen zusammen war, zum Beispiel in der Schule, bei einer Chorprobe, einer Konferenz oder einer Familienfeier. Man jage dann nicht allen Einzelkontakten der Person nach, sondern kontaktiere gezielt nur diejenigen, die an den Clustern beteiligt waren, also etwa Mitschüler oder Chormitglieder. Die Clustermitglieder würden dann für zehn Tage in Quarantäne gebeten. „Die Ämter würden dadurch entlastet werden, das System muss jetzt, wo wir im Wellenbrecher-Shutdown sind, umgestellt werden.“
Die Verbandschefin der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, Ute Teichert, sieht das ganz ähnlich. Auf die Frage, ob man sich bei der Kontaktnachverfolgung von der Verfolgung jedes einzelnen Falls verabschieden sollte, um lieber lokalen Häufungen nachzugehen und so die großen Infektionsketten zu brechen, sagt Teichert vor kurzem in den „Tatsächlich wäre es gut, wenn man vorwiegend auf die Cluster gucken würde. Das würde aber bedeuten,
Die Bundeswehr hilft in den Gesundheitsämtern aus
Braucht es einen Strategiewechsel?
ARD-Tagesthemen:
dass man insgesamt einen Strategiewechsel in der Gesellschaft bräuchte.“Und diesen Strategiewechsel müssten die Menschen mittragen. Denn im Endeffekt bedeute das, dass man sich in Quarantäne begeben müsse, bloß weil man bei einem Cluster dabei war – ohne dass man positiv getestet wurde oder Symptome habe. Wenn man diesen Weg einschlagen wolle, dann müssten dafür auch rechtliche Grundlagen geschaffen werden, fährt Teichert fort.
Zurück am Dillinger Gesundheitsamt. Oder besser: der früheren Außenstelle des Landratsamtes, die für die Kontaktnachverfolgung wieder aktiviert wurde. Gesundheitsamtschefin Kastner war mit ihren Leuten Anfang des Jahres umgezogen. Dann kam die erste Welle. „Da saßen wir noch auf nicht ausgepackten Kisten“, sagt Kastner. Nun ist sie also wieder in dem alten, gelben Gebäude mitten in der Dillinger Altstadt, in das in diesen Zeiten pro Tag etwa 100 Menschen kommen, um sich testen zu lassen. Kastner geht die Treppen hinunter, ins Erdgeschoss, wo sich das Testzentrum befindet, in dem auch mehrere niedergelassene Ärzte mithelfen – trotz ihrer anderen Belastungen.
Auf einer Bank im Eingangsbereich der Teststation sitzt eine Frau mit ihrem Sohn. „Der Kinderarzt hat uns abgewiesen, deswegen sind wir jetzt hier“, sagt sie und atmet tief durch. „Fragen Sie nicht, das ist alles unglaublich“, fährt sie fort. Die Familie hat eine Landwirtschaft, der Bub wollte bei einem Lastwagenfahrer mitfahren – später stellte sich heraus, dass der Mann mit Sars-CoV-2 infiziert war. Die Sorge der Frau, dass der Lkw-Fahrer ihren Sohn angesteckt haben könnte, ist groß. Der indes wirkt angesichts der nervenaufreibenden Situation noch ganz gelassen. „Mir geht es ganz gut, ich habe nur ein bisschen Schnupfen“, murmelt der Bub hinter seinem Mundschutz.
Sollte er infiziert sein, geht im Gesundheitsamt die Suche nach den Kontaktpersonen des Buben los. Nach Kindern, mit denen er gespielt hat, nach Verwandten, die er getroffen hat. Diese Detektivarbeit wird in einem nüchternen Büro beginnen.