Wie viele Menschen steckt ein Infizierter in Bayern an?
So hat sich die Reproduktionszahl im Freistaat bislang entwickelt. Das sagen Experten dazu
Augsburg Über die Reproduktionszahl im Zusammenhang mit dem Coronavirus wird gerade diskutiert, als sei sie eine Art Glaskugel, durch die wir in die Zukunft sehen könnten. Liegt sie über eins, steckt jeder Infizierte mehr als eine weitere Person an, das heißt, auch die Neuinfektionen werden steigen. Liegt sie unter eins, werden sie sinken. Für Bayern sagt die Reproduktionszahl derzeit eine positive Entwicklung voraus. Auf „unter eins“hatte Markus Söder sie beziffert, sogar niedriger als der deutschlandweite Durchschnitt.
Das ist eine gute Nachricht, aber: „Wir haben nach wie vor viele Neuinfektionen in Bayern, aber die Dynamik der Epidemie ist die gleiche wie in anderen Bundesländern“, sagt Helmut Küchenhoff. Er leitet das statistische Beratungslabor der Ludwig-Maximilians-Universität in München, das die Reproduktionszahl für Bayern bestimmt. Dessen Berechnungen nach ist die Zahl fast konstant gesunken. Von einem Wert von etwa fünf zu Beginn der Epidemie auf knapp über zwei am 7. März, bis sie um den 18. März herum unter eins gesunken ist. Dort hält sie sich seither mehr oder weniger konstant. Zuletzt wurde die Reproduktionszahl auf 0,79 geschätzt.
Bei der Interpretation müsse man aber vorsichtig sein, sagt Küchenhoff. Das gelte vor allem für den Rückgang von fünf auf zwei am Anfang der Kurve. „Der Beginn der Epidemie ließ sich schwer abbilden. Da war die Reproduktionszahl noch kaum bestimmbar.“
Dass die Entwicklung trotz hoher
Infektionszahlen im Freistaat ähnlich verlaufen ist wie im Rest Deutschlands, ist insofern logisch, als dass die Maßnahmen ähnliche waren: Schulschließungen, Homeoffice, Ausgangsbeschränkungen.
Wenig Kontakt führt zu weniger Ansteckungen, die Reproduktionszahl sinkt. Dass die absolute Anzahl der Infektionen in Bayern höher ist, mache dabei aber kaum einen Unterschied.
Auffallend ist der gemeinsame Rückgang spätestens ab dem 11. März. Welche Maßnahmen konkret für den Rückgang verantwortlich waren, lasse sich nur schwer ablesen, sagt Küchenhoff. „Zu dieser Zeit sah man in den Medien häufig die Horror-Zustände in Bergamo, außerdem hat die Bundeskanzlerin erstmals zum Abstandhalten aufgerufen. Das könnte eine Rolle beim Rückgang der Zahl gespielt haben.“Wichtig sei dabei immer, auch die Zahl der Neuinfektionen im Blick zu haben.
Die Reproduktionszahl bilde aber nur einen Teil der Wirklichkeit ab.
Sie zeigt uns das, was Küchenhoff die „Dynamik der Epidemie“nennt. Ähnlich sieht das auch Lothar Wieler, Präsident des RobertKoch-Instituts. „Es ist nicht hilfreich, wenn man sich immer nur auf einen Faktor bezieht“, sagte er. Es sei zwar wichtig, die Zahl unter eins zu halten, man dürfe sie aber nicht aus dem Kontext nehmen.
Ist die Zahl der Neuinfektionen zu hoch, nützt auch eine Reproduktionszahl von knapp unter eins wenig. Das Gesundheitssystem würde die Last der Fälle nicht stemmen können. Gerade diese Zahl ist in Bayern aber weiterhin hoch, etwa 300 bis 400 Neuinfizierte verzeichnet der Freistaat jeden Tag. Mehr als jedes andere Bundesland, aber bislang noch verkraftbar für Gesundheitsämter und Krankenhäuser.