Lasst den Gefühlen der Kinder freien Lauf
Ratgeber Familientherapeut Jesper Juul erklärt Eltern, warum emotionale Ausbrüche wichtig sind
Ich kann feststellen, dass ich immer mehr Eltern, aus ganz Europa, treffe, die Probleme mit den emotionalen Reaktionen ihrer Kinder haben. Eine Mutter schilderte mir, dass sie ihrer Zweijährigen jeden Morgen eine Tüte mit Himbeerbonbons versprechen muss, damit sie von der Haustür bis zum Auto läuft und sich in den Wagen setzt. (…) Ich schlug ihr ganz einfach vor, das Mädchen freundlich, aber bestimmt ins Auto zu tragen und die ganze Straße ihre Proteste hören zu lassen. Diesen Vorschlag wies sie mit dem Gedanken an einen möglichen Gefühlsausbruch ihrer Tochter ab. „Ich will doch, dass sie harmonisch aufwächst“, lautete ihre Begründung.
Alle diese Eltern haben einen gemeinsamen Wunsch: Ihre Kinder sollen fröhlich, harmonisch, nett und vernünftig sein. Wenn ich einen meiner erfolglosen pädagogischen Versuche starte und diese Eltern frage, ob sie selbst denn auch immer nett und harmonisch seien, antworten sie häufig: „Nicht immer, aber ich versuche, ein positives Vorbild zu sein.“Diese Tendenz ist ebenso traurig wie beängstigend. (…) Ein offener Gefühlsaustausch ist von großer Bedeutung für die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, die das Familienleben so wertvoll machen. Das gilt für das gesamte emotionale Spektrum, inklusive der irrationalen und unergründlichen Gefühle. Darum ist es traurig, wenn Eltern nur die harmonischen Töne in der Vielfalt des Gefühlsrepertoires befürworten, wenn sie sich nur dann als erfolgreiche Eltern begreifen, wenn ihre Kinder wie Teletubbies sind. Beängstigend ist die Tendenz, weil die Folgen so ernst zu nehmen sind. Die Hälfte dieser Kinder kooperiert (sie passen sich den Erwartungen und Forderungen der Eltern an), indem sie jene Gefühle unterdrückt, die dem Selbstbild oder dem Image der Eltern nicht entsprechen. Aber so können sie weder ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln noch jene Lebenskenntnis erwerben, die so unentbehrlich ist. Bei einem gesunden Selbstwertgefühl geht es um zwei Sachen: wie gut wir uns selbst kennen, unsere Gedanken, Wertvorstellungen, Gefühle und Reaktionen, und wie wir uns dazu verhalten. Wenn Eltern den Kindern signalisieren, dass die meisten Gefühle unerwünscht sind, dann behindert das diese beiden Prozesse. Das Resultat zeigt sich oft in der Pubertät, wo das Kind die aufgestauten Gefühle in einem destruktiven Chaos freilässt. (…)
Die andere Hälfte der Kinder kooperiert, indem sie die ganze Zeit schlecht gelaunt ist, frustriert und in endlose Machtkämpfe mit den Eltern verstrickt – Machtkämpfe, bei denen es eigentlich nur um das Recht des Kindes geht, fröhlich, traurig, ängstlich, wütend oder verzweifelt sein zu dürfen, ohne dass es für die Eltern ein Problem ist. Diese Kinder haben keine Möglichkeit, einen Grundstein für ein gesundes Selbstwertgefühl zu legen. (...)
Eine normale und gute Kindheit umfasst tausende von bitteren Rückschlägen (…) und hoffentlich auch eine Menge Dinge, die uns fröhlich, euphorisch, glücklich machen und uns sicher fühlen lassen. Eltern haben nicht die Aufgabe, das Gefühlsleben ihrer Kinder zu steuern. Es ist ihre Pflicht und ein Privileg, sich für sie zu interessieren und von ihnen zu lernen. An dieser Stelle wollte der bekannte Familientherapeut Jesper Juul Fragen unserer Leser beantworten. Das ist ihm im Moment krankheitsbedingt nicht möglich, wird aber nachgeholt. Daher drucken wir heute einen Auszug aus seinem Buch:
Jesper Juul: Elterncoa ching Beltz, 329 Seiten, 19,95 Euro