Um Kopf und Kragen
Einfach das Ende der Welt Harte Kino-Kost
Vor zwölf Jahren verließ Louis (Gaspard Ulliel) den Ort seiner Kindheit und meldete sich seitdem nur noch mit einsilbigen Postkarten bei seiner Familie. Nun kehrt er zurück in die Provinz, weil er weiß, dass er sterben wird. Zwölf Jahre sind eine sehr lange Zeit und während Louis in der fernen, großen Stadt als Schriftsteller und Theaterautor reüssierte, ist die Verwandtschaft über sein Verschwinden nicht hinweggekommen. Der verlorene Sohn und Bruder, von dessen Erfolgen Zeitungsberichte kündeten, hat eine schmerzende Leerstelle hinterlassen, die mit Trauer, Wut und vielen Projektionen gefüllt wurde.
Die Umgangsformen sind hart in dieser Familie. Kaum einer kann einen Satz zu Ende sprechen, ohne dass ein anderer ihn unterbricht. Schon nach wenigen Filmminuten versteht man, warum Louis nach seinem schwulen Coming-out die Flucht ergriffen hat. Sein älterer Bruder Antoine (Vincent Cassel) hat ihm nie verziehen. Für die jüngere Suzanne (Léa Seydoux) ist der große Bruder in der fernen Stadt ein Sehnsuchtsstern, der nun plötzlich zum Anfassen nah erscheint. Die Mutter Martine (Nathalie Baye) versucht in übersteuerter Lautstärke Harmonie zu stiften. Aber bald wird deutlich, dass hinter der aufbrausenden Versöhnlichkeit viel Verletztheit und eine große emotionale Klarheit steckt. Immer wieder tauchen im Familienchaos plötzliche Momente der Wahrheit auf und es ist dieser dynamische Rhythmus zwischen versteckten und offenbarten Gefühlen, der Xavier Dolans „Einfach das Ende der Welt“auszeichnet.
Der franko-kanadische Regisseur („Mummy“) hat sich aus dem Fundus des französischen Kinos eine hervorragende Besetzung zusammengestellt, die sich hier beherzt um Kopf und Kragen spielen darf. Fast vollständig wird das Familiendrama in Nahaufnahmen und mit bewegter Handkamera ins Bild gefasst. Keine leichte Kost, aber ungeheuer beherztes Kino. ***