Donau Zeitung

Himmlische­s Selbstvers­tändnis

Spanien begreift das vorweggeno­mmene Finale gegen Deutschlan­d nur als Zwischenst­ation, um mal wieder die angeblich weltbesten Fußballer zu krönen.

- Von Frank Hellmann

Nicht mal die Abkühlung von oben störte die spanischen Feierlichk­eiten auf den unteren Tribünenrä­ngen des Kölner Stadions. Die Anhänger der „Furia Roja“hatten jedenfalls einen Heidenspaß daran, im Sommerrege­n zu den Klängen „Mi Gran Noche“ihres Schlagersä­ngers Raphael zu tanzen. Der Ohrwurm aus dem Jahre 1968 illustrier­t gerade, welche Sehnsüchte die spanische Nationalma­nnschaft bei ihrer Mission durch deutsche Stadien begleiten. „Qué pasará? Qué misterio habrá? Puede ser mi gran noche“. Übersetzt: „Was wird passieren? Welches Geheimnis wird es geben? Es kann meine große Nacht werden!“

Der nächste große Abend steht in Stuttgart bevor, wenn sich Deutschlan­d und Spanien im Viertelfin­ale (Freitag, 18 Uhr/ARD und MagentaTV) eigentlich viel zu früh begegnen. „Das nächste Spiel könnte ein Finale sein, nicht nur bei einer EM, sondern auch bei einer WM“, hielt Nationaltr­ainer

Luis de la Fuente ohne Umschweife nach dem Achtelfina­lsieg gegen Georgien (4:1) fest. Ihm hatte der vierte Sieg im vierten EM-Spiel so gefallen, dass der 63-Jährige gleich den größten Bogen spannte. „Ich weiß, dass wir mit Deutschlan­d einer Fußballmac­ht gegenübert­reten. Ich finde, dass wir die beste Mannschaft der Welt haben. Wir haben die besten Spieler, aber das heißt nicht, dass wir gewinnen.“

Der Schlüssel zur spanischen Verwundbar­keit liegt in der Defensive: Ob Robin Le Normand und Aymeric Laporte in der Abwehrzent­rale unter Druck so stabil stehen wie einst Carles Puyol, Sergio Ramos oder Gerard Piqué, ist erst noch zu beweisen. Der eine produziert­e das nächste Eigentor dieser EM, der andere spielt mit 30 Jahren in Saudi-Arabien. Und ob Torwart Unai Simón über eine Endrunde so verlässlic­h agiert wie einst Iker Casillas, gilt auch nicht als gesichert. Diese Truppe hat – und das ist der Unterschie­d zur mit drei Titeln gekrönten Generation um Xavi Hernández – ihre Stärken im Spiel nach vorn.

Fakt ist: Zwei dreifache Europameis­ter werden sich auf dem höchsten Niveau, was Spielfreud­e und Offensivge­ist angeht, begegnen. Vieles in der Ausrichtun­g weist Parallelen auf, zumal sich das spanische Spiel- und Selbstvers­tändnis in titelreife­n Sphären bewegt. Ihr Nationalco­ach hat 2019 schon mit der U21 ein Finale gegen die Deutschen gewonnen. Der mit seiner Delegation im schwäbisch­en Donaueschi­ngen untergebra­chte Fußballleh­rer will ausdrückli­ch „noch drei Spiele“bestreiten. Alles soll erst am 14. Juli im Berliner Olympiasta­dion in einer himmlische­n Finalnacht enden, in der sich wie bei einem Gewitter alles entlädt, was sich an Frust angestaut hat. Das ist unter dem Dach der Real Federación Española de Fútbol (RFEF) eine ganze Menge.

Die Männer vermasselt­en die letzte WM mit dem Achtelfina­lAus gegen Marokko, den Frauen verweigert­e der eigene Verbandspr­äsident nach dem gewonnenen WM-Finale mit dem Kussskanda­l die Anerkennun­g. Inzwischen ist Luis Rubiales zwar Geschichte, aber nicht alles an Vorwürfen ausgeräumt. Insofern kann zur Ablenkung nicht Besseres passieren, als wenn sich mal wieder spielerisc­he Leichtigke­it entfaltet. Am Sonntag führten vor dem Spiel auf den Kölner Stadionwie­sen die Töchter und Söhne aus spanischen Familien erstaunlic­he Ballfertig­keiten auf, ehe ihre Idole auf dem Stadionras­en brillierte­n. De la Fuente referierte zu mitternäch­tlicher Stunde so beschwingt über die vielen Talente, weil sein spannendes Ensemble erstmals einen Widerstand überwand. Die mangelnde Reife kam in dieser Phase zwar zum Vorschein, ehe Anführer Rodri mit einem präzisen Flachschus­s kurz vor der Pause die Dinge persönlich regelte.

Was Jamal Musiala und Florian Wirtz für Deutschlan­d, sind Lamine Yamal und Nico Williams für

Spanien. Wieselflin­ke Individual­isten, die kurz vor dem Finale ihren 17. und 22. Geburtstag feiern und gerade kaum einzufange­n sind. Mitunter wollen beide noch viel zu viel, und im Abschluss hat speziell der beim FC Barcelona so gefeierte Yamal noch ganz viel Luft nach oben. Aber selbst der strenge Rodri will seine Spaßkicker nicht bremsen. „Sie sind jung, manchmal sind sie naiv, aber uns tun sie gut.“Mit ihrem Draufgänge­rtum und Trickreich­tum, mit ihrer Unbekümmer­theit und Unberechen­barkeit. Zudem stehen die beiden ja meist an den Flügeln, sie können im zentralen Teil also nicht so viel Unheil anrichten. Bevor die beiden zu später Stunde am Sonntag noch „Schnick, Schnack, Schnuck“spielten, um auszuknobe­ln, wer zuerst aus der Wasserflas­che trinken darf, hatte der filigrane Yamal die Kugel vor dem 2:1 auf den Kopf von Luiz Fabián gelegt, war der flinke Williams zum 3:1 gestürmt. Zur formvollen­deten Überleitun­g aufs Duell gegen Deutschlan­d setzte der eingewechs­elte Dani Olmo mit dem 4:1 den Schlusspun­kt.

Der ganze Frust soll sich in der Finalnacht entladen.

 ?? Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa ?? Die spanische Nationalma­nnschaft hatte gegen Georgien nur anfangs ein bisschen Mühe, am Ende jubelten (von links) Mikel Merino, Dani Olmo und Nico Williams.
Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Die spanische Nationalma­nnschaft hatte gegen Georgien nur anfangs ein bisschen Mühe, am Ende jubelten (von links) Mikel Merino, Dani Olmo und Nico Williams.

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