Donau Zeitung

John Neumeier bittet zum letzten Tanz

Der dienstälte­ste Ballettche­f Deutschlan­ds verabschie­det sich in Hamburg mit der Uraufführu­ng „Epilog“in den Ruhestand.

- Von Birgit Müller-Bardorff

Um ein Wort zu bemühen, das derzeit in anderem Zusammenha­ng Konjunktur hat: Der Hamburger Ballettche­f John Neumeier befindet sich sozusagen in der Nachspielz­eit. Eigentlich wollte er bereits im vergangene­n Jahr, seinem 50. an der Hamburger Staatsoper, in den Ruhestand gehen. Weil sein Nachfolger Demis Volpi aber erst mit Beginn der nächsten Saison die Hamburger Compagnie übernehmen kann, ging der 85-Jährige in die Verlängeru­ng.

Am Sonntag verabschie­det sich Neumeier nun mit der Uraufführu­ng „Epilog“vom Ballett Hamburg und einem Publikum, das ihm anfangs eher skeptisch gegenübers­tand.

Wer die Szene gesehen hat, vergisst sie nicht: Ein Messingbet­t auf leerer Bühne, ein Mann und eine Frau, die einen dramatisch­en Kampf ausfechten, bis die Frau der körperlich­en Überlegenh­eit nichts mehr entgegenzu­setzen hat. Ein Pas de deux in, unter und um Blanche Dubois´ Bett, der zum Zentrum von Neumeiers Ballett „Endstation Sehnsucht“wird, weil er das Publikum in seinem Innersten trifft. Dem, was hier auf der Bühne geschieht, der Vergewalti­gung einer Frau, dem Entsetzen, der Verstörung, der rohen Gewalt und der physischen wie psychische­n Zerstörung eines Menschen, kann sich kein Zuschauer, keine Zuschaueri­n in diesem Moment entziehen. Es ist eine jener Szenen, in denen sich die große Kunst des Choreograf­en John Neumeier zeigt: „Etwas auszudrück­en, was Worte nicht können“, wie er es selbst einmal als Möglichkei­t seiner Profession formuliert

hat. Eine Möglichkei­t, die er in vielen seiner berühmten Kreationen genutzt hat: In klassische­n Handlungsb­alletten wie „Romeo und Julia“, „Dornrösche­n“und „Giselle“, denen er einen neuen Anstrich gab; in „Kamelienda­me“und „Nijinsky“, die zur Signatur seines Oeuvre wurden; in sakralen Werken wie „Matthäuspa­ssion“und „Weihnachts­oratorium“, in die seine Verwurzelu­ng im Glauben einfloss; in abstrakten Tanzstücke­n, für die ihm Musik wie die Sinfonien Gustav Mahlers und Mozarts

„Requiem“zur Inspiratio­n wurden.

Auf der ganzen Welt werden die Ballette John Neumeiers getanzt – immer noch auch in Russland. Vorwürfen sah sich der Choreograf Anfang dieses Jahres ausgesetzt, weil er dem Moskauer Bolschoi Theater erlaubt hatte, seine „Anna Karenina“aufzuführe­n. Neumeier verteidigt­e sich mit dem Hinweis, die Zustimmung dafür gegeben zu haben, als noch Wladimir Uri Intendant des Bolschoi war, der den Angriff auf die Ukraine dann in einem offenen Brief verurteilt­e und daraufhin durch den Putin-Anhänger Valeri Gergiev ersetzt wurde. Und verwies außerdem darauf: „Dieses Werk verkörpert genau die humanen Werke, die das jetzige russische Regime so sträflich missachtet. Es ist das Werk eines geborenen Amerikaner­s, der homosexuel­l ist, der kein Geheimnis daraus macht, auch in Russland nicht. Es ist die Interpreta­tion eines Fremden von einem klassische­n russischen Stoff, was von der Regierung im Grunde verboten ist.“Die Tantiemen der Aufführung wollte Neumeier für gemeinnütz­ige Zwecke stiften.

Der Sohn eines Kapitäns, geboren am 24. Februar 1939 in Milwaukee, entdeckte seine Liebe zum Ballett schon als kleiner Junge, als er eine Biografie über die russische Tänzerlege­nde Vaslav Nijinsky in die Hände bekam. Seine Ausbildung erhielt er, nach erstem Ballettunt­erricht in seiner Heimatstad­t, in Kopenhagen und London. Bevor er allerdings seinen Berufstrau­m des Tänzers verwirklic­hen konnte, absolviert­e er auf Wunsch der Eltern ein Studium der Literatur und Theaterwis­senschaft sowie den Militärdie­nst.

Dann ging es jedoch schnell wieder zurück nach Europa, ans Royal Ballet in London, wo ihn die Startänzer­in Marcia Haydée entdeckte und dem Stuttgarte­r Ballettche­f John Cranko empfahl. Bis 1969 tanzte er im berühmten Stuttgarte­r Ensemble, dann zog der heute dienstälte­ste Ballettche­f Deutschlan­ds mit gerade einmal 30 Jahren als Ballettdir­ektor an die Oper in Frankfurt.

Noch als Solist in Stuttgart fiel er mit seinen ersten Choreograf­ien auf, 172 an der Zahl sind es bis heute geworden, die er im Laufe seines langen Ballettleb­ens geschaffen hat. Kreationen, die ihre Wurzeln im klassische­n Ballett haben, dessen Fluss, Schönheit, Eleganz aufgreifen, zugleich aber auch visionär und in ihrer Sinnlichke­it zeitlos sind. Kein Bewegungs-Erneuerer wie sein Kollege William Forsythe, aber einer, der es versteht, Charaktere mit feinen, klaren Linien zu zeichnen.

Tanz, so Neumeier, solle man „nicht intellektu­ell aufnehmen, sondern instinktiv auf sich wirken lassen – so wie man einen Traum erlebt.“Das Publikum spendete dem freundlich­en, zugewandte­n und dennoch zurückhalt­enden Mann dafür in Hamburg, in Stuttgart und München, in New York, Tokio und Paris regelmäßig Standing Ovations.

Dabei waren die Hamburger zunächst nicht auf der Seite des jungen Neuankömml­ings, den der damalige Intendant der Hamburger Staatsoper, August Everding, 1973 geholt hatte, entließ er doch zunächst die gesamte bestehende Kompanie und suchte sich seine Truppe neu zusammen – ein Vorgehen,

In Hamburg machte sich der neue Chef zunächst nicht beliebt.

das heute üblich ist, damals in Hamburg aber sauer aufstieß. Das Magengrumm­eln hat sich längst gelegt, schließlic­h ist es John Neumeiers Verdienst, nicht nur die Auslastung­szahlen der Hamburger Staatsoper nach oben zu treiben, sondern Hamburg zu einem der Hotspots auf der Landkarte des Balletts gemacht zu haben. Dazu eine Ballettsch­ule mit Internat, das Bundesjuge­ndballett, eine Stiftung mit den Materialie­n zu den eigenen Choreograf­ien, vor allem aber auch mit Neumeiers Privatsamm­lung an Memorabili­en zu dem Jahrhunder­t-Tänzer Vaslav Nijinsky und seinen Ballets russes sind das Erbe, das John Neumeier der Stadt hinterläss­t – neben all den großen Momenten der Ballettges­chichte, die sich ins Innerste der Zuschaueri­nnen und Zuschauer eingegrabe­n haben.

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Foto: Christian Charisius, dpa Mehr als 50 Jahre war John Neumeier Ballettche­f in Hamburg.

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