Allgäu, Aktenzeichen XY . . . ungelöst
Gerhard Köpf setzt seine Thulsern-Saga mit einem Mafia-Roman unter dem Titel „Palmengrenzen“fort
Der Mann, der den Mailänder Hutladen mit einem neuen Borghi Lorenzo verließ, verlor seinen Beschatter im Gewühl des Hauptbahnhofs aus den Augen. Er nahm den Zug nach Venedig, wechselte in Verona in den EC 82 nach München und lag tot in seinem Erste-KlasseAbteil, als er dort ankam. Ermordet durch Kopfschuss zwischen Rosenheim und München, jedenfalls nach der obligatorischen Grenzkontrolle.
Die Personalien des Mannes: Bruno Ziegler, über 70, verwitwet, kinderlos, geboren im Allgäu, wohnhaft in München mit Neigung zu Italien, habilitierter Notar im Ruhestand, lese- und schreibbesessen, zuletzt beschäftigt mit einer Kulturgeschichte der Henkersmahlzeit. Das war eine Auftragsarbeit, mit der ihn die vorgebliche „Silenziosi-Stiftung für europäische Kulturund Rechtsgeschichte“und damit die Allgäu-Mafia geködert hatte. Für Archiv-Recherchen zu diesem makabren Thema war er nach Mailand gereist und zur Abwechslung auch ins nahe Monza.
In der dortigen Villa Reale fand er sich unversehens in einer auch für das Allgäu zuständigen Regionalkonferenz der Mafia wieder. Was er dabei aus dem Mund des Commendatore über Regeln und Kodizes der Ehrenwerten Gesellschaft und über deren Status im Allgäu („vom Rückzugsraum zum Aktionsraum“) zu hören bekam, hätte ihn eigentlich warnen müssen. Nämlich warnen davor, jenes kurz vor seiner Heimreise erhaltene Angebot einer hochmafiosen Allgäuer Hotelierswitwe, sich enger mit ihr zu stellen, derart entschieden abzulehnen wie geschehen. Seine E-Mail „Meglio solo che male accompagnati“(Lieber allein als in schlechter Gesellschaft) dürfte sein Todesurteil gewesen sein.
Wie vermint das Terrain auch im Allgäu ist, hätte Bruno Ziegler doch wissen müssen – allein durch so kapitale Beispiele wie Salvatore Salamone, der 1989 als Gemüsehändler in Kempten aufflog und dann in Italien wegen zweifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, oder Giorgio Basile, der 1998 am Kemptener Bahnhof verhaftet wurde und 30 Auftragsmorde einräumte. Jetzt also liegt Bruno Ziegler erschossen in seinem Zugabteil, neben ihm der Roman „Palermo Connection“der Mafia-Expertin Petra Reski und viele seiner eigenen Aufzeichnungen, die sein Leben wie ein steter Fluss begleitet haben.
Und nun kommt sein guter alter Freund ins Spiel, Allgäuer wie er, verwitwet und kinderlos wie er, Apotheker und in geistiger Verbundenheit sein Nachlassverwalter. Als solcher veröffentlicht er Bruno Zieglers Aufzeichnungen in der Hoffnung, damit zur Aufklärung des Verbrechens beitragen zu können. Nach Art des TV-Dauerhits „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“bittet er in seinem Prolog darum, sich für Hinweise „umgehend mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft in Verbindung zu setzen“.
Dieser als Herausgeber firmierende Freund ist natürlich niemand anderer als der 1948 in Pfronten geborene Gerhard Köpf, der sich hier eines alten literarischen Tricks bedient. Hinter Bruno Zieglers detaillierten Aufzeichnungen steht er selbst, unverkennbar durch die Mischung aus Fakt und Fiktion, Fall und Fabel, Ernst und Ironie, Fremdzitat und Selbstplagiat.
Die Hotelierswitwe, deren Annäherung sich Ziegler verweigerte, ist beheimatet in Bad Thulsern, Chefin im dortigen Grand Hotel Garibaldi. Es dürfte das erste Mal sein, dass Thulsern so konkret wie fiktiv verortet wird (Bad Thulsern am Fluss Thulsern), obwohl doch Köpfs in die neue Literaturgeschichte eingegangenen Thulserniaden schon mit seinem Romanerstling „Innerfern“(1983) begannen. „Palmengrenzen“(2020) nennt er selbst den „15. Band meiner Thulsern/Allgäu-Saga, diesmal mit bösem Hintergrund: nicht ohne Ursache . . .“Die Ursache sieht er durch seinen sizilianischen Kollegen Leonardo Sciascia bestätigt, der im Roman „Das Gesetz des Schweigens“die sich nach Norden verschiebende Palmengrenze mit der Ausdehnung der Mafia vergleicht. Bestätigen können das auch Allgäuer Kommunal-, Polizei- und JustizAkten, wobei mehr oder weniger verdeckt auch Aktualitäten wie der Streit ums Riedberger Horn eingeflochten werden. Selbst der Allgäuer Presseball gerät in den Hinterhalt, den Köpf für sein Thulsern zubereitet – mit Freude an italienischen Sprüchen und Spott für Allgäuer Heimatgehabe. Hervorzuheben bleiben noch die 15 Texte, die zwischen den Kapiteln Auszüge aus Zieglers Forschungsprojekt „Henkersmahlzeit“präsentieren. Sie tragen alle den Titel „Aus dem Sammelordner“. Diese Formulierung darf auch als ein Merkmal Köpf’scher Literatur gelten.
Gerhard Köpf: Palmengrenzen Braumüller; 240 S., 22 ¤