Roman Polanski und ein massiver Justizfall
Vor der Uraufführung von Polanskis neuem Streifen „J’accuse“blieben die Meinungen über Werk und Autor geteilt. Nach der Uraufführung, die ohne Proteste verlief, gab es viel Applaus
Venedig Es schien wie ein Skandal mit Ansage. Darf ein Filmfest einen Regisseur einladen, der vor gut 40 Jahren eine Minderjährige missbrauchte? Diese Frage führte schon im Vorfeld zu einer hitzigen Diskussion, bis es am Freitag dann so weit war: Bei den Filmfestspielen von Venedig stand die Premiere von „J’accuse“an, des neuen Werks von Roman Polanski. Vor den Kinos bildeten sich lange Schlangen, die ersten Vorführungen von „J’accuse (An Officer and a Spy)“waren bis auf den letzten Platz besetzt.
In dem Drama über einen historischen Justizskandal in Frankreich konnten die Festivalbesucher dann auch den französisch-polnischen Regisseur in einer Szene entdecken – als Statisten. Das war aber auch die einzige Möglichkeit, ihn in Venedig zu sehen. Beim Filmfest selbst trat der 86-Jährige nicht auf, wahrscheinlich reiste er gar nicht erst an. Immerhin meidet der in Frankreich lebende Polanski seit Jahren Reisen ins Ausland. Stattdessen kamen seine Hauptdarsteller Jean Dujardin (Oscar für „The Artist“) und Louis Garrel sowie Polanskis Ehefrau Emmanuelle Seigner, die im Film eine Nebenrolle hat.
Um die Missbrauchsvorwürfe ging es bei der Pressekonferenz aber nicht. Man werde nur Fragen zum Film beantworten, stellte Produzent Luca Barbareschi gleich zu Beginn klar. „Wir werden nicht auf die Polemik eingehen. Das hier ist kein moralisches Gericht.“Vielmehr werde bei dem Festival die Kunst hochgehalten. „Und die ist frei.“Tatsächlich hätte wahrscheinlich auch nichts Überraschendes zur Debatte hinzugefügt werden können. Schließlich Polanskis Fall nicht neu, gewann zuletzt aber mit der #MeToo-Debatte und dem Ausschluss des Filmemachers aus der Oscar-Akademie 2018 neue Brisanz – und durch die Einladung des Films nach Venedig.
Im Kern geht es darum, dass Polanski 1977 Sex mit einer 13-Jährigen hatte, vor der Urteilsverkündung aus den USA floh und nie wieder zurückkehrte. Das Opfer selbst setzt sich für die Einstellung des Verfahrens gegen Polanski ein. Doch die US-Justiz hält daran fest und verlangte wiederholt die Auslieferung von Polanski, darunter aus der Schweiz.
Jurypräsidentin Lucrecia Martel hatte zu Festivalbeginn gleich klar gestellt, dass sie nicht zum GalaDinner von „J’accuse“gehen werde, gleichzeitig aber den Dialog mit Polanski begrüßt. Und Festivalleiter Alberto Barbera verteidigte seine Entscheidung der Nominierung des Films: „Ich bin kein Richter (...), ich kann nur sagen, ob ein Film in den Wettbewerb gehört oder nicht.“Er verglich „J’accuse“sogar mit einem von Polanskis Meisterwerken, dem mit drei Oscars ausgezeichneten Holocaust-Drama „Der Pianist“.
Mit dessen Dramatik kann „J’acist cuse“aber zunächst nicht mithalten. Doch später entwickelt die Geschichte um die Dreyfus-Affäre, die in den 1890er Jahren einen massiven Justizbetrug offenbarte und damit einen großen Skandal in Frankreich auslöste, ihren ganz eigenen Sog: Es geht um Vertuschung, Verdrehung von Fakten, Antisemitismus, Verleumdung von Medien und Vorverurteilungen. Spannend sind dabei die Parallelen zu aktuellen politischen Entwicklungen – und unübersehbar zu Polanskis Fall.
Was passiert, wenn aus dem Hörensagen Fakten werden? Wenn aus einer Meinung eine Wahrheit wird? Wenn man sich die Gegenseite gar nicht erst anhört, weil man von seiner eigenen Sicht auf die Dinge so überzeugt ist? Polanski inszeniert das als üppig ausgestattetes Historiendrama, das zugleich wie ein klassischer Krimi wirkt. Keine Szene zu viel, kein Dialog zu lang. Damit beweist der 86-Jährige nicht nur, dass er einer der besten Autorenfilmer seiner Generation ist, sondern auch, dass „J’accuse“zurecht im Venedig-Wettbewerb läuft.
Das schienen auch viele beim Festival zu denken: kein Protest, aber viel Applaus für den Film und das Team.