Warum niemand krank in die Arbeit gehen sollte
Der sogenannte Präsentismus ist weit verbreitet. Was die Wissenschaft dazu sagt
Woher kommt das schlechte Gewissen, wenn wir krank zu Hause bleiben?
Utz Niklas Walter: Die Leute glauben, dass sie dem Unternehmen etwas Gutes tun, wenn sie krank zur Arbeit kommen. Nach dem Motto: „Ich bin krank, kümmere mich aber trotzdem.“Das hängt auch ein Stück weit damit zusammen, wie wir sozialisiert sind. Wenn wir krank auch für Familie oder Freunde da sind, wird das häufig als aufopferungsvoll und positiv ausgelegt. Das sollte man aber nicht auf das Arbeitsverhältnis übertragen. Ein weiterer Grund für das schlechte Gewissen, wenn man der Arbeit fernbleibt, ist die Angst, als faul wahrgenommen zu werden.
Warum sollte man zu Hause bleiben? Walter: Viele Arbeitnehmer vergessen, dass sie andere anstecken können, Krankheiten verschleppen oder das Unfallrisiko steigt. Zudem besteht die Gefahr, Fehler zu machen. Denken Sie an den Fahrer eines Schulbusses. Da wünschst sich wirklich niemand, dass dieser krank am Steuer sitzt.
Wie können Beschäftigte ihr schlechtes Gewissen am besten überwinden? Walter: Am einfachsten ist es, mal die Perspektive zu wechseln. Was würden wir uns denken, wenn ein Kollege krank zur Arbeit kommt? In den meisten Fällen freut man sich weniger darüber, dass er da ist, sondern ist eher genervt davon, dass er einen vielleicht anstecken wird. Oder Fehler macht.
Viele erscheinen aber krank bei der Arbeit, weil sie Mehrarbeit für die Kollegen vermeiden wollen ...
Walter: Ja, das ist für viele Beschäftigte sogar einer der Hauptgründe, wie wir in Studien herausgefunden haben. Da ist dann die Führungskraft gefordert. Die sollte mit ihrem Team besprechen: Wenn jemand krank ist, kann für die anderen Mehrarbeit entstehen – aber im besten Fall nur für eine kurze Zeit. Im Gegenzug lassen sich schwerwiegende negative Folgen wie die Übertragung von Krankheiten oder das gestiegene Unfall- und Fehlerrisiko vermeiden. Die Führungskraft darf jedoch auch vermitteln: Wer genesen ist, sollte sich kameradschaftlich verhalten und möglichst bald an seinen Arbeitsplatz zurückkehren.
Oft denken wir uns ja: Ach, das ist nur eine kleine Erkältung, deswegen bleibe ich jetzt nicht zu Hause ...
Walter: Im ersten Schritt sollte ich mir immer denken: Bin ich ansteckend und besteht die Gefahr, dass sich die Krankheit verschlimmert? Im Zweifel lasse ich das von einem Arzt abklären. Oder ich halte mit Kollegen Rücksprache. Die Ausbildung von Gesundheitspartnern im Betrieb kann hier sinnvoll sein: Dabei handelt es sich um speziell geschulte Beschäftigte, die als vertrauensvolle Ansprechpartner fungieren. Grundsätzlich ist es zudem wichtig, dass in der Firma eine Kultur entwickelt wird, die den Beschäftigten erlaubt, bei Krankheit daheim zu bleiben.
Wie kann das gelingen?
Walter: Eine solche Kultur kann durch ein Leitbild oder die Führungskräfteausbildung gefördert werden. Letztlich sollten alle Ebenen beteiligt sein: Der einzelne Arbeitnehmer, das Team, die Führungskraft und das oberste Management. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Chef gezielt Leute anspricht, die krank zur Arbeit gehen, und sie dann auch bewusst nach Hause schickt. Außerdem sollten Führungskräfte selbst vorleben, dass man bei Krankheit zu Hause bleibt. Es hilft, Grundsätze zum Umgang mit Krankheit und Fehlzeiten schriftlich festzuhalten. Innerhalb eines Teams gibt es aber doch oft Unterschiede, wie einzelne mit dem Thema Krankheit umgehen. Wie kommt man da auf einen Nenner? Walter: Ja, es gibt Beschäftigte, die damit kokettieren, in zig Berufsjahren kaum Krankheitstage angesammelt zu haben. Bei anderen Beschäftigten erkennt man eine Übertreibung in die andere Richtung. Damit es da keine Konflikte gibt, kann man etwa moderierte Teamworkshops veranstalten. Da legen dann alle ihre Karten offen auf den Tisch. So schafft man Verständnis dafür, dass Krankheitsempfinden individuell ist und unterschiedliche Hintergründe haben kann. Dr. Utz Niklas Walter ist Geschäftsführer des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung in Konstanz.