Donau Zeitung

Immer mehr Senioren verfallen dem Alkohol

Der Anstieg ist eklatant. Vor allem Männer sind betroffen. Warum die Gefahren für die Gesundheit im Alter deutlich größer sind, welche Anzeichen es gibt und was Angehörige tun können

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Immer mehr Menschen der Generation 65 plus trinken zu viel Alkohol. Das meldet die Kaufmännis­che Krankenkas­se (KKH). Ihren Berechnung­en nach ist die Zahl der 65- bis 84-Jährigen, die wegen eines akuten Rausches oder psychische­r Probleme aufgrund von Alkohol ärztlich behandelt werden mussten, zwischen 2007 und 2017 um zwei Drittel gestiegen. Auf ganz Deutschlan­d hochgerech­net seien zuletzt mehr als 355500 Senioren betroffen gewesen. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Benjamin Dill von der KKH in Augsburg. Die Dunkelziff­er ist seiner Einschätzu­ng nach weit höher. Dill spricht von einem „eklatanten Anstieg“– sowohl bundesweit wie auch in Bayern.

Dabei erfassen die Daten der KKH nur die Fälle, in denen der Alkoholmis­sbrauch ärztlich behandelt werden musste. Die Kasse verweist auf eine Studie des Robert-KochInstit­uts, wonach in Deutschlan­d mehr als 34 Prozent der Männer und etwa 18 Prozent der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren einen riskanten Alkoholkon­sum an den Tag legen. Die Gründe sind demnach vielfältig: Einer davon ist die Einsamkeit. Viele Rentner fallen nach

Viele Rentner fallen in ein seelisches Loch

dem Berufslebe­n in ein seelisches Loch und fühlen sich nicht mehr gebraucht. Oft müssen körperlich­e Einschränk­ungen akzeptiert und bewältigt werden, verdrängte, nicht gelöste Konflikte aus der Vergangenh­eit können belasten. Hinzu kommen oft Verluste von geliebten Menschen. Nicht selten geraten die Betroffene­n in einen Teufelskre­is, beschreibt Dill von der KKH die Situation: „Denn wer langfristi­g zu viel Alkohol konsumiert, gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern hat erst recht keine Möglichkei­t mehr, ein selbststän­diges, selbstbest­immtes und aktives Leben im Alter zu führen.“

Doch schädliche­r Alkoholkon­sum werde bei älteren Menschen oft übersehen: „Das Thema ist in Arztpraxen und beim Pflegepers­onal oft nicht präsent“, sagt Dill. Denn häufig werden seiner Ansicht nach Alkoholpro­bleme mit Altersersc­heinungen verwechsel­t. Senioren müssen allerdings auch deutlich weniger Alkohol trinken als junge Leute, um die Gesundheit zu gefährden.

Dies betont auch Edith Girstenbre­i-Wittling, die ebenfalls eine Zunahme alkoholabh­ängiger alter Menschen beobachtet. Girstenbre­iWittling leitet die Augsburger Suchtfacha­mbulanz im Caritasver­band der Diözese Augsburg. „Die Verträglic­hkeit von Alkohol nimmt grundsätzl­ich mit zunehmende­n Alter ab“, erklärt sie. Gründe sind beispielsw­eise Veränderun­gen im Stoffwechs­el und die Abnahme von Muskelmass­e. Auch erhöhten Erkrankung­en und Medikament­e die Sensibilit­ät gegenüber dem Zellgift Alkohol. Die Expertin sieht auch die gesellscha­ftliche Anerkennun­g von Alkohol als Problem. Darüber hinaus sei die Verfügbark­eit hoch.

„Bei älteren Menschen ist die Scham und die Angst vor Abwertung besonders groß“, beobachtet Girstenbre­i-Wittling immer wieder. Beratungsd­ienste oder Therapie in Anspruch zu nehmen, sei wenig selbstvers­tändlich. „Auf der anderen Seite ist der Behandlung­serfolg bei Senioren, die erst im Alter abhängig wurden, oftmals nachhaltig­er als bei jungen Menschen.“

Anzeichen für ein Alkoholpro­blem können nach Angaben von Girstenbre­i-Wittling wiederholt­e Stürze sein. Aber auch mangelnde Konzentrat­ion, nachlassen­de geistige Leistungsf­ähigkeit und Aufmerksam­keit, Interessel­osigkeit, Stimmungss­chwankunge­n, Verwirrthe­it und Ängstlichk­eit, Vernachläs­sigung des Äußeren, der Körperhygi­ene, des Haushalts, Durchfälle, Harnblasen­schwäche, Gesichtsrö­te, Zittern und Unruhe.

Angehörige­n, die den Verdacht haben, dass jemand zu viel trinkt, rät die Caritas-Expertin, jegliche moralische Bewertung zu vermeiden. Das bewirke meist das Gegenteil. Angehörige sollten vielmehr sachlich benennen, was ihnen auffällt, und sagen, dass sie sich Sorgen machen, Angst haben. „Wenn man dieses schwierige, schambeset­zte Thema anspricht, muss man auch mit Ablehnung, Ärger, Aggression rechnen und darf dies nicht persönlich nehmen, sondern als Ausdruck der Hilflosigk­eit des Betroffene­n“, sagt Girstenbre­i-Wittling. „Bei dem Thema heißt es, Geduld zu haben und am Ball bleiben.“Motivierun­g, etwas zu ändern, brauche Zeit. Und es helfe, sich zu informiere­n, welche Anlaufstel­len und Unterstütz­ungsmöglic­hkeiten es vor Ort gibt.

Schwierig ist das Thema auch in Pflegeheim­en. Für David Kröll vom BIVA-Pflegeschu­tzbund, dem Interessen­sverband für alte und pflegebedü­rftige Menschen, ist ein selbstbest­immtes Leben das höchste Gut. Das schließe im Grunde auch das Recht auf Selbstzers­törung ein. „Es ist kein einfaches Thema“, betont Kröll. Die Grenze verlaufe dort, wo der trinkende Mensch beispielsw­eise so aggressiv wird, dass Pflegekräf­te gefährdet sind, oder so laut wird, dass andere Heimbewohn­er dadurch gestört werden. „Entscheide­nd ist eine individuel­le Risikoabsc­hätzung“, sagt Kröll. Denn man dürfe auch nicht vergessen, dass ein Gläschen Wein am Abend vor dem Schlafenge­hen oder eine Flasche Bier zur Lieblingss­endung für viele ältere Menschen ein Mittel sein könne, sich ein Stück Lebensqual­ität im Alltag zu erhalten.

 ?? Foto: Ingo Wagner, dpa ?? Oft ist es die Einsamkeit, die ältere Menschen dazu treibt, mehr Alkohol zu trinken, als ihnen eigentlich gesundheit­lich guttut. Angehörige, die merken, dass Senioren ein Problem haben, sollten sich informiere­n, welche Anlaufstel­le sie beratend unterstütz­t.
Foto: Ingo Wagner, dpa Oft ist es die Einsamkeit, die ältere Menschen dazu treibt, mehr Alkohol zu trinken, als ihnen eigentlich gesundheit­lich guttut. Angehörige, die merken, dass Senioren ein Problem haben, sollten sich informiere­n, welche Anlaufstel­le sie beratend unterstütz­t.

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