Immer mehr Senioren verfallen dem Alkohol
Der Anstieg ist eklatant. Vor allem Männer sind betroffen. Warum die Gefahren für die Gesundheit im Alter deutlich größer sind, welche Anzeichen es gibt und was Angehörige tun können
Augsburg Immer mehr Menschen der Generation 65 plus trinken zu viel Alkohol. Das meldet die Kaufmännische Krankenkasse (KKH). Ihren Berechnungen nach ist die Zahl der 65- bis 84-Jährigen, die wegen eines akuten Rausches oder psychischer Probleme aufgrund von Alkohol ärztlich behandelt werden mussten, zwischen 2007 und 2017 um zwei Drittel gestiegen. Auf ganz Deutschland hochgerechnet seien zuletzt mehr als 355500 Senioren betroffen gewesen. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Benjamin Dill von der KKH in Augsburg. Die Dunkelziffer ist seiner Einschätzung nach weit höher. Dill spricht von einem „eklatanten Anstieg“– sowohl bundesweit wie auch in Bayern.
Dabei erfassen die Daten der KKH nur die Fälle, in denen der Alkoholmissbrauch ärztlich behandelt werden musste. Die Kasse verweist auf eine Studie des Robert-KochInstituts, wonach in Deutschland mehr als 34 Prozent der Männer und etwa 18 Prozent der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren einen riskanten Alkoholkonsum an den Tag legen. Die Gründe sind demnach vielfältig: Einer davon ist die Einsamkeit. Viele Rentner fallen nach
Viele Rentner fallen in ein seelisches Loch
dem Berufsleben in ein seelisches Loch und fühlen sich nicht mehr gebraucht. Oft müssen körperliche Einschränkungen akzeptiert und bewältigt werden, verdrängte, nicht gelöste Konflikte aus der Vergangenheit können belasten. Hinzu kommen oft Verluste von geliebten Menschen. Nicht selten geraten die Betroffenen in einen Teufelskreis, beschreibt Dill von der KKH die Situation: „Denn wer langfristig zu viel Alkohol konsumiert, gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern hat erst recht keine Möglichkeit mehr, ein selbstständiges, selbstbestimmtes und aktives Leben im Alter zu führen.“
Doch schädlicher Alkoholkonsum werde bei älteren Menschen oft übersehen: „Das Thema ist in Arztpraxen und beim Pflegepersonal oft nicht präsent“, sagt Dill. Denn häufig werden seiner Ansicht nach Alkoholprobleme mit Alterserscheinungen verwechselt. Senioren müssen allerdings auch deutlich weniger Alkohol trinken als junge Leute, um die Gesundheit zu gefährden.
Dies betont auch Edith Girstenbrei-Wittling, die ebenfalls eine Zunahme alkoholabhängiger alter Menschen beobachtet. GirstenbreiWittling leitet die Augsburger Suchtfachambulanz im Caritasverband der Diözese Augsburg. „Die Verträglichkeit von Alkohol nimmt grundsätzlich mit zunehmenden Alter ab“, erklärt sie. Gründe sind beispielsweise Veränderungen im Stoffwechsel und die Abnahme von Muskelmasse. Auch erhöhten Erkrankungen und Medikamente die Sensibilität gegenüber dem Zellgift Alkohol. Die Expertin sieht auch die gesellschaftliche Anerkennung von Alkohol als Problem. Darüber hinaus sei die Verfügbarkeit hoch.
„Bei älteren Menschen ist die Scham und die Angst vor Abwertung besonders groß“, beobachtet Girstenbrei-Wittling immer wieder. Beratungsdienste oder Therapie in Anspruch zu nehmen, sei wenig selbstverständlich. „Auf der anderen Seite ist der Behandlungserfolg bei Senioren, die erst im Alter abhängig wurden, oftmals nachhaltiger als bei jungen Menschen.“
Anzeichen für ein Alkoholproblem können nach Angaben von Girstenbrei-Wittling wiederholte Stürze sein. Aber auch mangelnde Konzentration, nachlassende geistige Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeit, Interesselosigkeit, Stimmungsschwankungen, Verwirrtheit und Ängstlichkeit, Vernachlässigung des Äußeren, der Körperhygiene, des Haushalts, Durchfälle, Harnblasenschwäche, Gesichtsröte, Zittern und Unruhe.
Angehörigen, die den Verdacht haben, dass jemand zu viel trinkt, rät die Caritas-Expertin, jegliche moralische Bewertung zu vermeiden. Das bewirke meist das Gegenteil. Angehörige sollten vielmehr sachlich benennen, was ihnen auffällt, und sagen, dass sie sich Sorgen machen, Angst haben. „Wenn man dieses schwierige, schambesetzte Thema anspricht, muss man auch mit Ablehnung, Ärger, Aggression rechnen und darf dies nicht persönlich nehmen, sondern als Ausdruck der Hilflosigkeit des Betroffenen“, sagt Girstenbrei-Wittling. „Bei dem Thema heißt es, Geduld zu haben und am Ball bleiben.“Motivierung, etwas zu ändern, brauche Zeit. Und es helfe, sich zu informieren, welche Anlaufstellen und Unterstützungsmöglichkeiten es vor Ort gibt.
Schwierig ist das Thema auch in Pflegeheimen. Für David Kröll vom BIVA-Pflegeschutzbund, dem Interessensverband für alte und pflegebedürftige Menschen, ist ein selbstbestimmtes Leben das höchste Gut. Das schließe im Grunde auch das Recht auf Selbstzerstörung ein. „Es ist kein einfaches Thema“, betont Kröll. Die Grenze verlaufe dort, wo der trinkende Mensch beispielsweise so aggressiv wird, dass Pflegekräfte gefährdet sind, oder so laut wird, dass andere Heimbewohner dadurch gestört werden. „Entscheidend ist eine individuelle Risikoabschätzung“, sagt Kröll. Denn man dürfe auch nicht vergessen, dass ein Gläschen Wein am Abend vor dem Schlafengehen oder eine Flasche Bier zur Lieblingssendung für viele ältere Menschen ein Mittel sein könne, sich ein Stück Lebensqualität im Alltag zu erhalten.