Die Heilanstalt als Mordstätte
Bis 1945 wurden über 2000 behinderte Menschen allein aus München im deutschen „Euthanasie“-Programm ums Leben gebracht. Ein notwendiges Gedenkbuch
Augsburg Wolfgang Sandlein durfte nur drei Jahre alt werden. Der Bub, Kind einer Münchner Arbeiterfamilie, wurde 1941 mit einem Gehirnschaden geboren und war deswegen schwerbehindert und pflegebedürftig. Mit knapp drei Jahren brachten ihn seine Eltern auf ärztlichen Rat in die Heil- und Pflegeanstalt EglfingHaar. Die dortigen Ärzte meldeten ihn beim Berliner „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“. Diesen Ausschuss hatte der NS-Staat quasi als Tarnorganisation zur Tötung behinderter Kinder eingerichtet. Nur wenige Wochen nach der Meldung traf aus Berlin die „Behandlungsermächtigung“ein. Die Pfleger mischten dem Kind tödliche Dosen des Medikaments Luminal in den Brei, am 7. August 1944 starb Wolfgang. Den Eltern teilte man mit, Todesursache sei eine Lungenentzündung gewesen.
Wolfgang Sandlein ist einer von über 200 000 Menschen, die als psychisch Kranke oder Behinderte im deutschen Nationalsozialismus bis 1945 ermordet wurden. Man ließ sie gezielt verhungern, tötete sie mit Medikamenten oder mit Gas in eigens eingerichteten Tötungsanstalten wie Hartheim – aber auch in psychiatrischen Kliniken wie Kaufbeuren (wo die Pflegerin Pauline Kneissler den eigentlich gesunden, aber aufmüpfigen Jungen Ernst Lossa mit einer Giftspritze ermordete) und Eglfing-Haar östlich von München. „Euthanasie“– Gnadentod – nannten die NS-Ärzte und NS-Gesundheitspolitiker ihre perfide Mordstrategie und sie begründeten sie mit der notwendigen „Reinheit des Volkskörpers“.
Für mehr als 2000 Kranke und Behinderte in München wurde die „Heil- und Pflegeanstalt“EglfingHaar zur Stätte des Unheils. Dort brachten Ärzte und Pfleger nicht nur den kleinen Wolfgang um, sondern unter vielen anderen auch den psychisch erkrankten Gymnasiallehrer Friedrich Crusius, die Epi- Thea Diem, den alkoholkranken Hans Erich Kraus und die taubstumme Anneliese Weidert. Die psychisch labile Hausangestellte Hedwig Lau war im siebten Monat schwanger, als der Eglfinger Arzt Gustav Scholten ihr das eigentlich lebensfähige Kind aus dem Leib schnitt und eine Zwangssterilisation vornahm. Mutter und Kind starben.
Die Krankenmord-Verbrechen wurden nach 1945 jahrzehntelang verdrängt und verleugnet. Erst in den 1980er Jahren begannen Angehörige, nach dem Schicksal ihrer toten Verwandten zu forschen; erst 2017 gedachte der Bundestag am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, auch der Euthanasie-Opfer. In München, beim neuen NS-Dokumentationszentrum, hatte sich da längst eine Arbeitsgruppe gebildet, die an die Opfer erinnern wollte. Mit dabei waren Michael von Cranach, der langjährige Leiter des Be- zirkskrankenhauses Kaufbeuren, der die dortigen Krankenmorde aufgedeckt hatte, und die aus Augsburg stammende Geschichts-Professorin Annette Eberle, die vor wenigen Jahren die Augsburger Zwangssterilisationen erforscht hatte.
Cranach, Eberle und die Mitstreiter Gerrit Hohendorf und Sibylle von Tiedemann haben nun ein „Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen ,Euthanasie‘-Morde“(Wallstein-Verlag, 432 Seiten, 24,90 Euro) herausgebracht. Darin werden die bürokratischen Abläufe, etwa die Deportationen, die speziellen Aktionen und die pseudo-wissenschaftlichen Diagnosen geschildert, die Institutionen und Beteiligten genannt und – tief beeindruckend – einzelne Lebensgeschichten erzählt. Im Buch sind alle Namen der bis jetzt bekannten 2016 Münchner Opfer aufgelistet, dazu die Namen der 56 Zwangsarlepsie-Kranke beiter, die 1944 von Eglfing-Haar deportiert und ermordet wurden.
Wenn das Buch in erster Linie ein Denkmal für die Opfer ist, so gilt es auch, die Täter zu benennen. Annette Eberle hat, unterstützt von der Bayerischen Ärztekammer, dazu eine Dokumentation vorgelegt: „Die Ärzteschaft in Bayern und die Praxis der Medizin im Nationalsozialismus“(Metropol-Verlag, 336 Seiten, 22 Euro). Darin benennt sie die Täter wie etwa den „schwäbischen Gesundheitsführer“Hans Luther aus Augsburg, der die „Maßnahmen zur Reinhaltung der Rasse“glühend verteidigte. Sie schildert die Verstrickungen der bayerischen Ärzte in erbbiologische Erfassung, Zwangssterilisation und Euthanasie, ihre „freudige Begrüßung“des braunen Tötungsprogramms, aber auch die Zurückhaltung, wenn nicht gar Arzt-Verweigerung, die es zum Glück auch gab.