Späte Sensation von John Coltrane
Eine erstklassige Studioaufnahme des alles überragenden Saxofonisten ist aufgetaucht und jetzt fertig produziert. Mit dabei: McCoy Tyner am Flügel und Elvin Jones am Schlagzeug
New York Mit zittrigen Händen kann man keine CD öffnen. Das Cellophan zerreißt in zahllose Fetzen, die Ungeduld sucht sich ein Ventil in Flüchen: Irgendwann muss das verdammte Ding doch in den Player! Jeder, der sich leidenschaftlich für Musik interessiert, würde so reagieren, nicht nur dem Jazz zugetane Zeitgenossen. Auf einen Moment wie diesen kann man im Prinzip nicht warten. Und dann erklingen die ersten Töne. Jetzt genau hingehorcht: Gibt es etwas Neues, womöglich etwas bislang Unerhörtes, etwas, das alle gängigen Lehrmeinungen auf den Kopf stellt?
Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Wenn jedoch im vorliegenden Fall immer wieder von einer „Sensation“die Rede ist, so passt das wie das Mundstück aufs Saxofon. Am kommenden Freitag veröffentlicht das Impulse-Label ein verschollen geglaubtes Studioalbum von John Coltrane. Die Nachricht verfügt über eine ähnliche Sprengkraft, als hätte man in einem Reisekoffer John Lennons die Bänder eines unbekannten Beatles-Songs gefunden oder auf einem Salzburger Speicher die Noten für Mozarts 22. Oper. Der aktuell geborgene Schatz trägt den sibyllinischen Titel „Both Directions At Once – The Lost Album“, was im Prinzip schon die Programmatik des Überraschungseies beschreibt, das der beste Saxofonist aller Zeiten, großer Erneuerer der Musik, auf dem Scheitelpunkt der Bebop-Welle und seiner spirituellen, ekstatischen, in die kosmi- schen Weiten des Freejazz reichenden Höhenflüge in den legendären Studios von Rudy van Gelder in Englewood Cliffs, auf der anderen Seite des Hudsons, ausbrütete.
Man schrieb den 6. März 1963, ein Tag wie jeder andere für Coltrane, damals 37 und dabei, seine Ehe und sein Leben komplett an den Jazz zu verlieren. Wenig bis gar kein Schlaf, stundenlange, selbstzerfleischende Übungsexzesse, drumherum Gigs im New Yorker „Birdland“, daneben noch Planung für die Aufnahmen mit dem Sänger Johnny Hartmann, die tags darauf über die Bühne gehen sollten, sowie Vorbereitung für das Album „Impressions“. Warum Coltrane trotz des gefüllten Terminkalenders in die Van-Gelder-Studios fuhr, lässt sich nur erahnen. Vielleicht folgte er einfach seinem Instinkt – ahnend, dass er in diesem Moment den Zenit seiner Spielkunst erreicht hat, den es unbedingt galt, zu dokumentieren.
Die Session fand an einem Wendepunkt in Coltranes Karriere statt. Spätestens Anfang der 1960er Jahre, nachdem er mit einem brutalen kalten Entzug vom Heroin und vom Alkohol losgekommen war, wusste der Saxofonist genau, wohin er wollte. Das „größte Quartett in der Geschichte des Jazz“, wie es DoorsDrummer John Densmore umschrieb, also der harmonisch kühne McCoy Tyner am Piano, der wuchtige Bassist Jimmy Garrison und Schlagzeuger Elvin Jones, diese drei ermöglichten ihm, die DNA der Tradition mit den neuronalen Impulsen der Avantgarde zu verbinden. Coltrane konnte dabei seinem musikalischen Intellekt faszinierend freien Lauf lassen. Und es gelang ihm immer wieder, abzuheben, sich mithilfe des von der Combo erzeugten Kraftfeldes von sämtlichen Strukturen zu lösen. Wohlgemerkt: Alles blieb im Rahmen und „hörbar“. Allenfalls Schatten künden vom schrillen, schrankenlosen Freejazz, von späteren Alben wie „A Love Supreme“oder „Ascension“, die ihrer Zeit voraus waren.
Dennoch erstaunt der Grat des Risikos, der phasenweise aufflammt. Coltrane und McCoy Tyner brachen zum ersten Mal sämtliche bis dato gültigen Grenzen der Harmonik auf, drängten in eine unbekannte, fremde Richtung, suchten nach dem tieferen Sinn der Musik. „Both Directions At Once“steht am Anfang eines kühnen Marathonfluges zu den Sternen und zeigt den Meister, wie er noch mit beiden Beinen auf dem Boden steht, allzeit zum Abheben bereit. Das Album enthält sieben Tracks, zwei davon ohne Namen, sowie einen „Slow Blues“. Die anderen Nummern sind Stücke aus dem Liverepertoire des Quartetts. Vom eleganten Klassiker „Vilia“über „Impressions“, eines der bekanntesten Stücke Coltranes, hier aber in einer kristallinen Version ohne Piano, über die mit festem, hartem Ton geblasene Ballade „Nature Boy“bis hin zu „One Up, One Down“, in dem die Band mit voller Kraft das Ohr überrollt.
Warum das Album erst jetzt zum Vorschein kommt, ist rätselhaft. An der Qualität lag es unter Garantie nicht. „Trane“nahm die Referenzkopie am Abend mit nach Hause; die angesetzten Sessions zwei und drei entfielen. Die Masterbänder sollen später angeblich im Zuge einer Revision bei Impulse sogar vernichtet worden sein. Coltranes erste Ehefrau nahm die vergessene Aufnahme nach der Scheidung mit; in ihrem Nachlass wurde sie nun, 55 Jahre später, entdeckt und von Coltranes Sohn Ravi fertig produziert.
Entscheidend müssen wohl kommerzielle Überlegungen gewesen sein: Bevor der Saxofonist 1962 zum Impulse-Label stieß, hatte er mit „My Favorite Things“einen kommerziellen Hit gelandet, der seinen Status als Superstar des Jazz untermauerte. Die Impulse-Bosse dürften sich nun mächtig unter Druck gefühlt haben, um jeden Preis den breiten Musikgeschmack zu füttern. Und genau da passten die Aufnahmen vom 6. März nicht hinein.
Dass kein Geringerer als der alte Rivale und Weggefährte Sonny Rollins nun schwelgt, der Fund sei, „als habe man in einer großen Pyramide eine neue Kammer entdeckt“, wirkt altersmilde und trifft dennoch den Nagel auf den Kopf. Coltrane – meist am Sopransaxofon – spielt facettenund trickreich, wahrscheinlich so gut wie nie zuvor oder später in seinem kurzen Dasein auf Erden. Alles greift ineinander, die Band funktioniert wie ein Organismus. Wer das Genie dieses Mannes in seiner Gänze begreifen will, der kommt an dieser Platte nicht vorbei.
Ein kühner Marathonflug zu den Sternen