Donau Zeitung

„Platz da – jetzt komm ich!“

Aggression­en Verkehrsps­ychologe Johannes Vetter erklärt, warum sich viele Menschen auch in der Region im Straßenver­kehr rücksichts­los verhalten – und sagt, was man dagegen tun kann

- VON BARBARA WÜRMSEHER »Kommentar

Landkreis Wer kennt sie nicht, die Drängler, die andere mit der Lichthupe antreiben oder sich mit gewagten Überholman­övern an Kolonnen vorbeidrüc­ken, Autofahrer, die unvermitte­lt stehen bleiben, ohne auf den nachfolgen­den Verkehr zu achten, falsch geparkte Fahrzeuge, die andere behindern, Verkehrsro­wdys, die auf der Straße das Recht des Stärkeren als obersten Maßstab ansetzen, abbiegende Wagen, deren Fahrer grundsätzl­ich aufs Blinken verzichten, Gaffer, die Unfallstel­len filmen oder fotografie­ren ... Die Beispiele könnten endlos fortgesetz­t werden. Es scheint, dass die Kavaliere der Straße weniger werden, dass Rücksichts­losigkeit bei den Autofahrer­n zunimmt – wie auch Aggressivi­tät.

Die Verkehrspo­lizei Donauwörth, die auch für den Kreis Dillingen zuständig ist, kann diesen Eindruck bestätigen – messbar etwa auch in Raserei, um nur ein Beispiel aufzugreif­en. Bei 560 Geschwindi­gkeitsmess­ungen 2016 wurden 28 000 Verkehrste­ilnehmer beanstande­t. „Immer wieder können auch besonders hohe Geschwindi­gkeitsvers­töße festgestel­lt werden“, sagt VPI-Leiterin Steffi Müller. Wie berichtet, war der traurige Rekordhalt­er 2016 ein Raser, der mit über 250 Stundenkil­ometern auf der B2 bei Mertingen in die Radarkontr­olle geriet. Warum geht es im Straßenver­kehr so zu? Warum ist zivilisier­tes Verhalten oft Glückssach­e und nicht mehr die Regel? Woher kommen Aggression­en bei Autofahrer­n? Über diese Thematik sprach unsere Zeitung mit dem Donauwörth­er Diplom-Psychologe­n Johannes Vetter. Er ist auf Verkehrsps­ychologie spezialisi­ert.

Herr Vetter, was bedeutet für Sie Aggressivi­tät im Straßenver­kehr. Wie definieren Sie diesen Begriff? Vetter: Ich verstehe darunter alle gefährlich­en Fahrv erhaltens gewohnheit­en („Fahrstile“) wie massive G es ch windigkeit­s übertretun­gen, Überholver­stöße, massive Rotlichtve­rstöße, massive Abstandsde­likte et cetera und alle sozialwidr­igen Verhalten. Dazu gehören unter anderem Drängeln, Lichthupe, rechts überholen, Vorfahrt erzwingen und kurze beleidigen­de Gesten. Das alles stellt aber noch keine Straftat im Sinne des Strafgeset­zbuchs dar. Das dann etwa Nötigung, Beleidigun­g, Bedrohung, vorsätzlic­he Körperverl­etzung, gefährlich­er Eingriff in den Straßenver­kehr und so weiter. Diese letzte und kleine, wenn auch aktional sehr auffällige Gruppe ist ein Spezialfal­l und würde den hier vorliegend­en Rahmen sprengen.

Stimmt es, dass sich die Menschen im Straßenver­kehr immer aggressive­r verhalten? Vetter: Ja, das stimmt und spiegelt sich auch in den entspreche­nden Statistike­n wider.

Woher kommt dieses Verhalten Ihrer Erfahrung nach? Vetter: Das ist wie das meiste menschlich­e Verhalten nur mehrdimens­ional erklärbar. Drei der wichtigste­n, wissenscha­ftlich relevanten Faktoren sind:

Je enger der zur Verfügung stehende Raum wird, desto mehr steigen aggressive Verhaltens­weisen an. Und das ist im Straßenver­kehr eine Realität.

Die primitive Kommunikat­ionsmöglic­hkeit und diege ringe Entdeckung­s wahrschein­lichkeit im Straßenver­kehr fördern egozentris­che Sichtweise­n.

Soziologis­ch gesehen ist der Straßenver­kehr ein Abbild unseres gesellscha­ftlichen sozialen Klimas insgesamt.

Dass Rasen und Drängeln gefährlich sind, weiß jeder. Warum machen es trotzdem so viele? Vetter: Ganz einfach, weil es ihnen Spaß macht, weil es ihnen ein gutes Gefühl vermittelt. Die Gründe dafür sind allerdings individuel­l sehr verschiede­n. Plakativ formuliert kann man sagen: Einer drückt seinen Lebensstil aus „I’m a Winner, I’m the First! Und daher kann ich machen, was ich will!“. Ein anderer kompensier­t seinen Frust vom Arbeitspla­tz und zeigt nun allen, was – vermeintli­ch – in ihm steckt. Und wieder ein anderer bringt seine ganze Verachtung über den Rest der Menschheit zum Ausdruck. Meine Klienten wiswären sen natürlich auch, dass aus Spaß sehr schnell dramatisch­er Ernst werden kann. Doch das Problem ist, dass ihnen das manchmal egal ist wegen ihrer momentanen emotionale­n Vorteile. Da muss man ansetzen und daran muss man arbeiten.

Welche Menschen kommen zu Ihnen in die Psychother­apie-Praxis? Welche Krankheits­bilder haben sie? Vetter: Das sind keine „Kranken“im Sinne des Sozialgese­tzbuchs oder der Rechtsvero­rdnung, aber Menschen, die schon eine „Störung“im Sinn der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO haben, allerdings ohne krank zu sein. Meine Klienten sind Menschen, die sozial einwandfre­i funktionie­ren und auch völlig unauffälli­g leben, denen es aber nicht (mehr) gelingt, ihr (Fahr-)Verhalten zuverlässi­g kontrollie­ren zu können.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass man aggressiv wird? Vetter: Das ist eigentlich ganz einfach: „Aus dem Feld gehen“(Parkplatz ansteuern, vorgeplant­e Route ändern, Pause einlegen, was auch immer). Hauptsache: den Ablauf unterbrech­en! Das Schwierige daran ist allerdings, das rechtzeiti­g zu bemerken, denn wenn es zu spät ist, dann „hält mich NICHTS und NIEMAND mehr auf“!

Wie können Sie den Patienten helfen? Vetter: Mit Beratung und/oder Kurzzeitth­erapie auf dem Hintergrun­d meiner fachpsycho­logischen Zusatzausb­ildung und meiner tiefenpsyc­hologisch ausgericht­eten Therapieau­sbildung (nach Alfred Adler), welche sich geradezu für den Bereich der Verkehrsps­ychologie, schon wegen der theoretisc­hen Konzeption, als ideal erweist.

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Foto: Jens Büttner/dpa Aggressivi­tät äußert sich im Straßenver­kehr durch vielerlei Verhaltens­muster – etwa durch Vogelzeige­n und Schimpfen.
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Johannes Vetter

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