„Platz da – jetzt komm ich!“
Aggressionen Verkehrspsychologe Johannes Vetter erklärt, warum sich viele Menschen auch in der Region im Straßenverkehr rücksichtslos verhalten – und sagt, was man dagegen tun kann
Landkreis Wer kennt sie nicht, die Drängler, die andere mit der Lichthupe antreiben oder sich mit gewagten Überholmanövern an Kolonnen vorbeidrücken, Autofahrer, die unvermittelt stehen bleiben, ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, falsch geparkte Fahrzeuge, die andere behindern, Verkehrsrowdys, die auf der Straße das Recht des Stärkeren als obersten Maßstab ansetzen, abbiegende Wagen, deren Fahrer grundsätzlich aufs Blinken verzichten, Gaffer, die Unfallstellen filmen oder fotografieren ... Die Beispiele könnten endlos fortgesetzt werden. Es scheint, dass die Kavaliere der Straße weniger werden, dass Rücksichtslosigkeit bei den Autofahrern zunimmt – wie auch Aggressivität.
Die Verkehrspolizei Donauwörth, die auch für den Kreis Dillingen zuständig ist, kann diesen Eindruck bestätigen – messbar etwa auch in Raserei, um nur ein Beispiel aufzugreifen. Bei 560 Geschwindigkeitsmessungen 2016 wurden 28 000 Verkehrsteilnehmer beanstandet. „Immer wieder können auch besonders hohe Geschwindigkeitsverstöße festgestellt werden“, sagt VPI-Leiterin Steffi Müller. Wie berichtet, war der traurige Rekordhalter 2016 ein Raser, der mit über 250 Stundenkilometern auf der B2 bei Mertingen in die Radarkontrolle geriet. Warum geht es im Straßenverkehr so zu? Warum ist zivilisiertes Verhalten oft Glückssache und nicht mehr die Regel? Woher kommen Aggressionen bei Autofahrern? Über diese Thematik sprach unsere Zeitung mit dem Donauwörther Diplom-Psychologen Johannes Vetter. Er ist auf Verkehrspsychologie spezialisiert.
Herr Vetter, was bedeutet für Sie Aggressivität im Straßenverkehr. Wie definieren Sie diesen Begriff? Vetter: Ich verstehe darunter alle gefährlichen Fahrv erhaltens gewohnheiten („Fahrstile“) wie massive G es ch windigkeits übertretungen, Überholverstöße, massive Rotlichtverstöße, massive Abstandsdelikte et cetera und alle sozialwidrigen Verhalten. Dazu gehören unter anderem Drängeln, Lichthupe, rechts überholen, Vorfahrt erzwingen und kurze beleidigende Gesten. Das alles stellt aber noch keine Straftat im Sinne des Strafgesetzbuchs dar. Das dann etwa Nötigung, Beleidigung, Bedrohung, vorsätzliche Körperverletzung, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und so weiter. Diese letzte und kleine, wenn auch aktional sehr auffällige Gruppe ist ein Spezialfall und würde den hier vorliegenden Rahmen sprengen.
Stimmt es, dass sich die Menschen im Straßenverkehr immer aggressiver verhalten? Vetter: Ja, das stimmt und spiegelt sich auch in den entsprechenden Statistiken wider.
Woher kommt dieses Verhalten Ihrer Erfahrung nach? Vetter: Das ist wie das meiste menschliche Verhalten nur mehrdimensional erklärbar. Drei der wichtigsten, wissenschaftlich relevanten Faktoren sind:
Je enger der zur Verfügung stehende Raum wird, desto mehr steigen aggressive Verhaltensweisen an. Und das ist im Straßenverkehr eine Realität.
Die primitive Kommunikationsmöglichkeit und diege ringe Entdeckungs wahrscheinlichkeit im Straßenverkehr fördern egozentrische Sichtweisen.
Soziologisch gesehen ist der Straßenverkehr ein Abbild unseres gesellschaftlichen sozialen Klimas insgesamt.
Dass Rasen und Drängeln gefährlich sind, weiß jeder. Warum machen es trotzdem so viele? Vetter: Ganz einfach, weil es ihnen Spaß macht, weil es ihnen ein gutes Gefühl vermittelt. Die Gründe dafür sind allerdings individuell sehr verschieden. Plakativ formuliert kann man sagen: Einer drückt seinen Lebensstil aus „I’m a Winner, I’m the First! Und daher kann ich machen, was ich will!“. Ein anderer kompensiert seinen Frust vom Arbeitsplatz und zeigt nun allen, was – vermeintlich – in ihm steckt. Und wieder ein anderer bringt seine ganze Verachtung über den Rest der Menschheit zum Ausdruck. Meine Klienten wiswären sen natürlich auch, dass aus Spaß sehr schnell dramatischer Ernst werden kann. Doch das Problem ist, dass ihnen das manchmal egal ist wegen ihrer momentanen emotionalen Vorteile. Da muss man ansetzen und daran muss man arbeiten.
Welche Menschen kommen zu Ihnen in die Psychotherapie-Praxis? Welche Krankheitsbilder haben sie? Vetter: Das sind keine „Kranken“im Sinne des Sozialgesetzbuchs oder der Rechtsverordnung, aber Menschen, die schon eine „Störung“im Sinn der Weltgesundheitsorganisation WHO haben, allerdings ohne krank zu sein. Meine Klienten sind Menschen, die sozial einwandfrei funktionieren und auch völlig unauffällig leben, denen es aber nicht (mehr) gelingt, ihr (Fahr-)Verhalten zuverlässig kontrollieren zu können.
Was kann man tun, wenn man merkt, dass man aggressiv wird? Vetter: Das ist eigentlich ganz einfach: „Aus dem Feld gehen“(Parkplatz ansteuern, vorgeplante Route ändern, Pause einlegen, was auch immer). Hauptsache: den Ablauf unterbrechen! Das Schwierige daran ist allerdings, das rechtzeitig zu bemerken, denn wenn es zu spät ist, dann „hält mich NICHTS und NIEMAND mehr auf“!
Wie können Sie den Patienten helfen? Vetter: Mit Beratung und/oder Kurzzeittherapie auf dem Hintergrund meiner fachpsychologischen Zusatzausbildung und meiner tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapieausbildung (nach Alfred Adler), welche sich geradezu für den Bereich der Verkehrspsychologie, schon wegen der theoretischen Konzeption, als ideal erweist.