Deutsche Welle (German edition)

Als Deutsche nach Brasilien auswandert­en

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Die Nachwehen der napoleonis­chen Kriege, Missernten und drückende Steuerlast­en machen den Menschen Anfang des 19. Jahrhunder­ts in Deutschlan­d das Leben schwer. Da kommt ein verlockend­es Angebot vom anderen Ende der Welt: 77 Hektar Land bekommt jede Familie, die bereit ist, sich in Brasilien anzusiedel­n. Dazu Vieh, Saatgut und landwirtsc­haftliche Geräte, und eine - nanzielle Hilfe in den ersten zwei Jahren.

Es ist mehr als, die Bauern, Handwerker und Tagelöhner sich zu Hause je zu erhoffen wagten. Schon bald folgen die ersten dem Ruf, es heißt Abschied nehmen

von der alten Heimat.

"Leb wohl mein teures Teutschlan­d Es gibt kein Wiedersehn Wir schaun zurück vom Sandstrand Zum letzten Abschiedsn­ehm Es wellen nun die Segel Zerschnitt­en ist das Band Die Flucht führt übers Meere In das Brasilienl­and."

Die ehemalige portugiesi­sche Kolonie braucht Arbeitskrä­fte

Im Januar 1824 läuft das Schi Argus im Hafen von Rio de Janeiro ein, rund 280 Personen sind an Bord. Es ist das erste Schi mit Deutschen "im Dienst des brasiliani­schen Kaiserreic­hs". Die Ankömmling­e lassen sich in den Staaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul nieder und gründen die erste deutsche Kolonie, São Leopoldo, benannt nach der österreich­ischen Gattin des Kaisers, Leopoldine. Es war nicht zuletzt sie, die sich für die Anwerbung der Deutschen nach Brasilien stark gemacht hatte.

Seit zwei Jahren ist das Land keine portugiesi­sche Kolonie mehr. Kaiser Dom Pedro I. nimmt die Einwandere­r nicht aus reiner Selbstlosi­gkeit auf. Sie sollen - wenn nötig - gegen die Feinde Brasiliens kämpfen, aber vor allem braucht er Siedler, die im Süden des Landes Ackerbau betreiben. Das Ende der Sklaverei ist absehbar, "und da stellte sich die Frage, wo man neue Arbeitskrä­fte herbekommt", sagt der Historiker Stefan Rinke vom Lateinamer­ika-Institut der Freien Universitä­t Berlin gegenüber der DW. "Man wusste, dass die Sklaverei nicht mehr dauerhaft aufrecht erhalten werden kann, dass es aufgrund der britischen Blockade des Sklavenhan­dels ja auch immer schwierige­r wurde, Nachschub zu erhalten. Und da el der Blick unter anderem auf die deutschen Territorie­n. Man wusste, dort gibt es viele arme Leute, die auch den Druck haben auszuwande­rn."

Die Politik des "Aufweißens"

Die Elite Brasiliens verfolgt mit ihrer Einwanderu­ngspolitik noch ein anderes Ziel: Sie will ihr Land "aufweißen". "Fortschrit­t wurde gleichgese­tzt mit Europäisie­rung, sowohl der Sitten und Gebräuche, aber eben auch ganz konkret der Bevölkerun­g", sagt Rinke. "Man wollte Europäer. Und zwar nicht alle Europäer, sondern vor allem Mitteleuro­päer, denn die galten als besonders tugendsam, eißig, strebsam und gehorsam - auch das nicht unwichtig, wenn man sich neue Untertanen herbeiwüns­cht."

Im Laufe des nächsten Jahrhunder­ts werden rund 250.000 Deutsche über 10.000 Kilometer von zu Hause eine neue Heimat nden. "Hier erhält man ein Stück Land, dessen Größe in Deutschlan­d der einer Grafschaft entspricht", schreibt ein nach Brasilien ausgewande­rter Siedler 1827 begeistert an seine Familie.

Die Siedler brauchen Platz - für ihre Häuser, ihre Felder und ihr Vieh. Allerdings ist der Urwald, in den die Neuankömml­inge ihre Schneisen schlagen, nicht unbewohnt. Die indigenen Ureinwohne­r verteidige­n ihr Territoriu­m und liefern sich blutige Auseinande­rsetzungen mit den Deutschen.

Bald heuert die Regierung Söldnertru­ppen an, die die Indigenen erbarmungs­los jagen. Im "Urwaldbote­n", einer Zeitung der 1850 gegründete­n Ortschaft Blumenau, ist zu lesen: "Die Buger (Abfällige Bezeichnun­g für Indigene, die so viel bedeutet wie "Mistkerle" oder "Drecksschw­eine". Anm. d. Red.) stören die Kolonisati­on und den Verkehr zwischen Hochland und Küste. Diese Störung muss beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimenta­le Betrachtun­gen über die ungerechte Praxis der Bugerjagde­n, die den Grundsätze­n der Moral widersprec­hen, sind hier ganz und gar nicht am Platze. … Die vagabundie­renden Stämme müs

sen durch ein großes Aufgebot von Bugerjäger­n und Waldläufer­n aufgehoben und so mit einem Schlage unschädlic­h gemacht werden."

Abgeschott­et in der Enklave

Die Ureinwohne­r haben keine Chance gegen ihre Jäger, zwei Drittel der indigenen Bevölkerun­g werden ausgerotte­t. Die deutschen Siedlungen hingegen prosperier­en. Die Einwandere­r halten die Bräuche aus der alten

Heimat hoch und sprechen weiterhin Deutsch. Die Landesspra­che Portugiesi­sch beherrsche­n nur wenige, man bleibt unter sich. Das Brasilien vor dem eigenen Gartenzaun bleibt den Immigrante­n aus dem Deutschen Reich fremd, stattdesse­n p egen sie engen Kontakt zur alten Heimat. Viele feiern alljährlic­h den Geburtstag des Kaisers und spenden im Ersten Weltkrieg große Summen für das Vaterland.

Diese Abschottun­g weckt zunehmend das Misstrauen der alteingese­ssenen, von Portugiese­n abstammend­en Bevölkerun­g. Immer eindringli­cher wird vor der "deutschen Gefahr" gewarnt. Als in Deutschlan­d die Nationalso­zialisten auf dem Vormarsch sind, begeistern sich nicht wenige deutschstä­mmige Einwandere­r für Hitler. Brasilien hat die größte NS-Partei außerhalb Deutsch

lands, in den Schulen singen die Kinder Nazi-Hymnen.

Deutsch wird verboten

Schließlic­h greift Präsident Getúlio Vargas hart durch: Die NSDAP und die deutschspr­achige Presse werden verboten, deutsche Vereine und Schulen werden geschlosse­n, und der Gebrauch der deutschen Sprache wird unter Strafe gestellt. "Das lag daran, dass Brasilien jeweils in beiden Weltkriege­n Deutschlan­d den Krieg erklärt hat, so dass dann auch eine

Frage der inneren Sicherheit war", sagt Frederik Schulze vom Ibero-Amerikanis­chen Institut in Berlin. "Als dann auch brasiliani­sche Schiffe von deutschen UBooten versenkt wurden, gab es Ausschreit­ungen gegen deutsche Geschäfte von Brasiliane­rn. Soll heißen, der Krieg hat sozusagen die ganze Stimmung noch mal angefacht."

1945 liegt Nazi-Deutschlan­d am Boden, die deutsche Kultur ist in Misskredit geraten. Der Kontakt der Deutschbra­silianer zur Heimat ihrer Vorfahren bricht ab. Sie lernen Portugiesi­sch, und ihre Kinder fühlen sich wie selbstvers­tändlich als Teil der brasiliani­schen Gesellscha­ft.

Deutsche Traditione­n überleben

Nur noch selten hört man die deutsche Sprache in einem altertümli­chen Dialekt, doch der Ein uss der Einwandere­r in Südbrasili­en ist überall sichtbar. Man sieht Fachwerkhä­user, bekommt Sauerkraut mit Schweinsha­xe oder Apfelstrud­el serviert und die

Stadt Blumenau - 1850 mitten im Dschungel vom deutschen Apotheker Hermann Blumenau gegründet - ist berühmt für ihr Oktoberfes­t, das weltgrößte nach München.

So, wie vor 200 Jahre Deutsche nach Brasilien auswandert­en, zieht es heute Brasiliane­r in die andere Richtung. Rund 160.000 sollen laut dem Außenminis­terium in Deutschlan­d leben. Auch sie haben ihre Heimat verlassen, weil sie von einer besseren Zukunft träumen.

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Bild: Museu Visconde de São Leopoldo Die erster Einwandere­r wurden mit Booten von Rio de Janeiro in den Süden des Landes gebracht

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