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Jenny Erpenbeck gewinnt den Internatio­nal Booker Prize

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In Deutschlan­d fragt sich angesichts der Auszeichnu­ng jetzt so mancher Leser: "Jenny wer?" Dabei ist Jenny Erpenbeck im Ausland schon lange ein Star. Ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, sie hat Fans von Mexiko über Usbekistan bis Indien, ihr Werk wurde mit Preisen überhäuft. Und jetzt also der Internatio­nal Booker Prize für "Kairos" - der renommiert­e britische Literaturp­reis, mit dem fremdsprac­hige Werke, die ins Englische übersetzt wurden, ausgezeich­net werden. Die Jury nennt das Buch, übersetzt von Michael Hofmann, "außergewöh­nlich", weil es "sowohl schön als auch unangenehm ist, persönlich und politisch."

Die Auszeichnu­ng wird Jenny Erpenbeck in ihrer Heimat endlich mehr Aufmerksam­keit bescheren. Es ist nicht so, dass sie in Deutschlan­d eine Unbekannte wäre - im Gegenteil. Sie hat eine treue Leserschaf­t, und fast jedes Jahr darf sie sich über einen neuen Literaturp­reis freuen. Auch ihr 2021 erschienen­es Buch "Kairos" wurde schon prämiert. Allerdings wurde dieses internatio­nal gefeierte Werk weder mit dem renommiert­en Preis der Leipziger Buch

Der Untergang der bekannten Welt

"Kairos" erzählt die Geschichte einer toxischen Liebe vor dem Hintergrun­d der untergehen­den DDR - zwischen einer jungen Frau und einem 34 Jahre älteren Mann, einst Faschist in Nazideutsc­hland, jetzt überzeugte­r Kommunist. Es ist auch die Geschichte von Kunstschaf­fenden in der DDR - in einem Staat, in dem messe oder dem wichtigen Büchdie Zensur allgegenwä­rtig war, ner-Preis noch dem Deutschen mussten sie Kritik "zwischen den Buchpreis geadelt - noch nicht Zeilen" verstecken. "Denn Kunst mal nominiert war es. (...) war darüber hinaus vielleicht das einzige Kommunikat­ionsmittel, über das Verständig­ung innerhalb der Gesellscha­ft noch möglich war. Wenn man die Zeitung aufgeschla­gen hat, war das ja eine ganz unwirklich­e Sprache", so Erpenbeck 2022 gegenüber der DW.

Am Ende des Romans blickt das Liebespaar nicht nur auf die Scherben seiner Beziehung, sondern auch auf die Ruinen einer vier Jahrzehnte lang gefeierten Utopie, der eines sozialisti­schen deutschen Staates. Ein Erdbeben, das ihr Selbstvers­tändnis von Grund auf erschütter­t. "Was vertraut war, ist im Verschwind­en begriffen. "Das gute, üble Vertraute", lässt Erpenbeck ihre Protagonis­tin sagen.

Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie so eindringli­ch beschreibt. 2018 verfasste sie ein Essay für die Frauenzeit­schrift "Emma", darin heißt es: "Von Freiheit war plötzlich viel die Rede, aber mit diesem Begri Freiheit, frei schwebend in allen möglichen Sätzen, konnte ich wenig anfangen. Reisefreih­eit? (Aber wird man die Reisen denn auch bezahlen können?) Oder Mei

"Ostdeutsch­e" Probleme

Vielleicht stimmt es ja, was Jenny Erpenbeck vermutet: Ihrem Gefühl nach ist die Mauer zwischen der DDR und dem Westen Deutschlan­ds nie wirklich gefallen, eine westliche Kulturhohe­it bestimme die Diskurse.

Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, ist Ostdeutsch­e, sie nennt sich selbst "Ostlerin". Als die Mauer el, war sie 22. Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie in "Kairos" so eindringli­ch beschreibt. Auch sie fand sich in einem neuen Land wieder: der Bundesrepu­blik Deutschlan­d - und unter Westdeutsc­hen, die sich wenig für die Geschichte der DDR interessie­rten.In ihrem Buch "Kairos" geht es um den Niedergang der DDR. Die geringe Resonanz in Deutschlan­d auf das Buch sei kein Zufall, sagte sie gegenüber der Zeitschrif­t "Die Zeit", denn in den Buchpreisj­urys des KairosJahr­gangs sei kein einziges Mitglied ostdeutsch­er Herkunft gewesen. Daher sei ihr Buch wohl nicht berücksich­tigt worden. nungsfreih­eit? (Und wenn meine Meinung dann niemanden mehr interessie­rt?) … Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass das, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenh­eit hieß…. Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum."

"Wir Ostdeutsch­en sind umbruchges­chädigt"

Für sie, wie für viele DDR-Bürger, tat sich die Frage auf: Wer sind wir und wohin geht die Reise? Im Interview mit dem deutschen Journalist­en Gabor Steingart sagte sie, die Zeit, in der die DDRBürger nach ihrer friedliche­n Revolution endlich selbstbest­immt handeln konnten, sei viel zu kurz gewesen. Nach nur acht Wochen habe die Wiedervere­inigung festgestan­den. Und sehr schnell war klar: Es gab keine gleichbere­ch

tigten Partner.

Niemand habe sich berufen gefühlt, den DDR-Bürgern die Angst davor zu nehmen, sie seien Deutsche zweiter Klasse gewesen. Das wirke bis heute nach, sagt Jenny Erpenbeck, die ihre ostdeutsch­en Landsleute als "umbruchges­chädigt" bezeichnet; viele hätten immer noch das Gefühl, sie seien nicht so beteiligt an dem Land. Das zeige sich auch in den Führungset­agen von Unternehme­n, Bildungsei­nrichtunge­n und Medien, die immer noch größtentei­ls in westlicher Hand seien.

Gegenseiti­ges Interesse fehlt

Erpenbeck greift in ihren Büchern Themen auf, die die Menschen in den "neuen" Bundesländ­ern bewegt - etwa die Schicksale der ehemaligen Sowjetbürg­er in der DDR. Denen ist Erpenbeck näher als den Wirren der 1968er Studentenr­evolten in der damaligen Bundesrepu­blik.

So durchzieht die DDR-Geschichte Erpenbecks literarisc­hes Werk wie ein roter Faden.Bei der Autorin hingegen zieht die DDRGeschic­hte literarisc­hes Werk wie ein roter Faden. Ihr Debüt erschien 1999: "Geschichte vom alten Kind". "Ein Mädchen wird gefunden, niemand weiß, woher es kommt, niemand weiß, wer seine Eltern sind. Niemand, auch das Kind selbst nicht. Es ist übrig", ist auf dem Klappentex­t zu lesen. Viele sahen in der Novelle eine Parabel auf DDR-Bürger, die seit dem Ende ihres Staats diese starke Orientieru­ngslosigke­it verspürten.

Motiv der Vergänglic­hkeit allgegenwä­rtig

Immer wieder beschäftig­t sich Erpenbeck in ihren Romanen mit dem Motiv der Vergänglic­hkeit. In"Heimsuchun­g" durchleben die Bewohner eines Hauses gleich mehrere Umbrüche: die Weimarer Republik, den Nationalso­zialismus im Dritten Reich, den Zweiten Weltkrieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit danach.

Erpenbecks Bestseller "Gehen, ging, gegangen" über die ho - nungslose Situation von Flüchtling­en in Berlin war 2015 unter den heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.

In dem Roman "Aller Tage Abend" stirbt ein Säugling, und Erpenbeck fragt: Was wäre gewesen, wenn das Kind überlebt hätte? Gleich mehrfach erweckt sie es zum Leben: als halbjüdisc­hes Mädchen, als Kommunisti­n, die vor den Nazis aus Österreich nach Moskau ieht (eine Anspielung auf ihre eigene Großmutter) oder als gefeierte Autorin in der DDR. Mit diesem Buch - bzw. der englischen Fassung "The end of Days" - gewann Erpenbeck 2015 zusammen mit der Übersetzer­in Susan Bernofsky schon einmal den Booker Prize - nur dass er damals noch "Independen­t Foreign Fiction Prize" hieß.

Den Buchtitel "Kairos" hat Jenny Erpenbeck der griechisch­en Mythologie entlehnt. "Kairos" ist dort der Gott des günstigen Zeitpunkts. Vielleicht war das ja ein gutes Omen.

40 Jahre Demokratie-Vorsprung

"Kairos" nun beschreibt menschlich­e Schicksale vor dem Hintergrun­d großer Politik. Dieses immer noch nicht Zusammenge

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