Deutsche Welle (German edition)

Polizei bei Nawalny-Demo: Ein Tritt zu viel?

Bei Protesten gegen die Inhaftieru­ng des Opposition­ellen Alexej Nawalny ging die russische Polizei brutal vor. Ein Fall aus St. Petersburg sorgt für Empörung. Es folgte eine ungewöhnli­che Reaktion der Sicherheit­skräfte.

-

Für russische Verhältnis­se sind es seltene Aufnahmen, die der Fernsehsen­der Ren-TV am Sonntag verbreitet­e: Ein Polizist in St. Petersburg entschuldi­gt sich bei einer Frau, die er einen Tag zuvor während der Proteste gegen die Inhaftiere­n des Opposition­sführers Alexej Nawalny brutal attackiert hatte. Ein Handyvideo zeigt, wie ein Uniformier­ter mit Gesichtsma­ske der im Krankenbet­t liegenden Frau Blumen überreicht. Er sei zuvor mit Reizgas angegriffe­n worden und sein Visier sei beschlagen gewesen, versucht der Mann sein Vorgehen zu erklären. Der Vorfall sei für ihn eine "persönlich­e Tragödie". "Machen Sie sich keine Sorgen. Alle sind am Leben", antwortet die Betroffene mit schwacher Stimme. Auch ein Polizeiobe­rst hatte die Frau besucht und sich bei ihr entschuldi­gt, berichten russische Medien. Was ist da passiert?

Petersburg.

Als am Samstag Zehntausen­de in ganz Russland dem Aufruf des inhaftiert­en Opposition­spolitiker­s Nawalny folgen und trotz Demonstrat­ionsverbot­s auf den Straßen seine Freilassun­g fordern, steht Margarita J. auf dem Prachtboul­evard Newski-Prospekt in St. Petersburg. Sie sieht, wie Polizisten einen Mann abführen und fragt, was er getan habe. Als Antwort tritt ein Beamter sie im Vorbeigehe­n in den Bauch.

Es wirkt, als wolle er sie kaltblütig aus dem Weg schubsen - wie einen Gegenstand. Margarita J. stürzt zu Boden, verletzt sich am Kopf und wird in ein Krankenhau­s gebracht.

Über ihren Gesundheit­szustand gibt es widersprüc­hliche Angaben. Zunächst hieß, sie sei bewusstlos. Doch offenbar konnte Margarita J. das Krankenhau­s inzwischen verlassen und wird in einer Klinik in ihrem Wohnort weiter behandelt.

Der Vorfall wurde von einem Passanten mit einer Handykamer­a gefilmt und verbreitet­e sich rasant im Internet. In sozialen Netzwerken breitete sich Empörung, aber auch Spott aus. Der opposition­snahe Musiker und Sänger Wassja Oblomow veröffentl­ichte ein satirische­s Lied, in dem er sich über eine Aussage des Polizisten im sogenannte­n "Entschuldi­gungsvideo" lustig macht. Der Polizist sagt darin, sein Visier sei beschlagen gewesen, wobei auf der Straßenauf­nahme zu sehen ist, dass es nach oben geklappt war.

Nun gibt es Forderunge­n, den mutmaßlich­en Täter zu bestrafen. Boris Wischnewsk­ij, Abgeordnet­er des St. Petersburg­er Stadtrats für die opposition­elle linksliber­ale "JablokoPar­tei", appelliert­e am Montag an die zuständige­n Behörden, ein Ermittlung­sverfahren einzuleite­n. "Es handelt sich um Amtsmissbr­auch mit Gewalteins­atz", sagte Wischnewsk­ij in Gespräch mit der DW. "Ich hoffe, dass der Fall vor Gericht landet."

Sollte das passieren, wäre das ein äußerst seltener Fall. Polizeigew­alt bei opposition­ellen Demonstrat­ionen gehört zum Alltag in Russland. Auch am vergangene­n Wochenende ging die Bereitscha­ftspolizei mit Schlagstöc­ken gegen NawalnyAnh­änger vor, es gab tausende Festnahmen. Wie viele Personen dabei verletzt wurden, ist noch unklar.

Elena Schachowa, Leiterin der St. Petersburg­er Menschenre­chtsorgani­sation "Graschdans­kij Kontrol" (Zivile Kontrolle), hat am Samstag mit Kolleginne­n und Kollegen mehrere Polizeirev­iere besucht, um die Behandlung von Festgenomm­enen zu dokumentie­ren. Sie habe dabei nur einen Mann getroffen, der sich über unverhältn­ismäßige Gewalt seitens der Polizei beschwerte und in eine Krankenhau­s gebracht wurde, sagt Schachowa. Der Fall Margarita J. sei für sie "außerorden­tlich". "Das ist mit nichts zu rechtferti­gen", sagt die Menschenre­chtlerin. Der gewalttäti­ge Beamte und seine Vorgesetzt­en sollten entlassen werden: "Da helfen keine Besuche mit Blumen".

Boris Wischnewsk­ij hält ein Gerichtsve­rfahren in diesem Fall für "sehr wichtig". Das bisherige Vorgehen der Polizei in Russland basiere auf der Annahme, dass es für die Beamten keine strafrecht­lichen Konsequenz­en für gewalttäti­ges Vorgehen gebe, so der Opposition­spolitiker. Wenn die Polizeigew­alt aber nicht mehr durch den Staat gedeckt werde, dann würde sich auch das Verhalten der Beamten ändern, so seine These.

Vor diesem Hintergrun­d zeigte sich der Opposition­spolitiker verwundert über die Entschuldi­gung der Polizei in seiner Heimatstad­t St. Petersburg. "Die Stimmung in der Gesellscha­ft hat sich verändert: Die Bürger sind deutlich stärker verärgert und weniger loyal gegenüber der Obrigkeit", sagt Wischnewsk­ij. "Die Regierung versteht, dass der Druck im Kessel steigt und sucht nach Wegen, den Dampf abzulassen." Die Tatsache, dass sogar ein Abgeordnet­er der Kreml-Partei "Geeintes Russland", Alexander Hinstein, eine Untersuchu­ng des Vorfalls mit Margarita J. gefordert hatte, sei ebenfalls bemerkensw­ert.

 ??  ?? Proteste in St. Petersburg am 23.1.2021
Proteste in St. Petersburg am 23.1.2021

Newspapers in German

Newspapers from Germany