Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Markt ist nicht die Realität
Warum die Mehrheit der privaten Anleger bei der Börse meist daneben liegt.
Kürzlich erntete ich bei einer Vortragsveranstaltung einige herzhafte Lacher, als ich feststellte: „Wenn es nicht mehr runtergeht, geht es eben rauf.“Es war meine Antwort auf die Frage, warum trotz schlechter Nachrichten und unsicherem Ausblick die Kurse steigen. Nun war meine Aussage zwar flapsig formuliert, aber im Kern gar nicht witzig gemeint. Zunächst war es nur die simple Feststellung, dass in Krisenzeiten die Kurse so gut wie nie auf der Stelle treten – dazu ist die Nervosität von Anlegern und Händlern viel zu groß. Doch ist auch das nur eine Beobachtung und keine Erklärung. Den tieferen Grund fasst eine alte Weisheit so zusammen: „Die Börse ist eine Einrichtung, um der größtmöglichen Zahl von Menschen die schlimmstmöglichen Schmerzen zuzufügen.“Anders gesagt: In Anlagefragen liegt die Mehrheit fast immer falsch und erleidet deshalb Kursverluste. Ihr Kardinalfehler liegt darin, die Marktentwicklung mit der Realität zu vergleichen. Dieser Zusammenhang ist aber sowohl inhaltlich als auch auf der Zeitachse derart wacklig, dass sich höchstens sehr langfristig orientierte Anleger danach richten können. Alle anderen müssen genauer hinschauen. Sie müssen die Kurse mit den Erwartungen an die Realität vergleichen. Wird, wie vor einiger Zeit, der Zusammenbruch des deutschen Energiesystems befürchtet, doch es kommt nur eine Gasumlage von 2,4 Cent pro Kilowattstunde, ist eben Entwarnung angesagt. Und das, obwohl ein tiefer Griff in die Taschen der Haushalte dem Wirtschaftsklima nicht helfen wird. Doch wenn alle Ängstlichen ihre Aktien bereits verkauft haben, gibt es bei Verkündung der Gasumlage kein weiteres Angebot mehr. Konsequenz: Käufer sind in der Überzahl und die Kurse steigen.
Prüfen wir also gemeinsam die Problemlage: Krieg in der Ukraine, Lieferengpässe, hohe Inflation, steigende Zinsen, drohende Rezession, anhaltende Pandemie, Gewinneinbußen. Für Sie etwas Neues dabei? Eben. Wer nur deshalb glaubt, die Kurse müssten fallen, kommt viel zu spät.
Unser Autor leitet die Vermögensabteilung von HSBC Deutschland in Düsseldorf. Er wechselt sich hier mit den beiden Wirtschaftsprofessoren Ulrike Neyer und Justus Haucap ab.