Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Zukunft ist schwerhöri­g

Auch wegen zu lauter Konzerte, aber vor allem wegen der Kopfhörer: Einer Milliarde junger Menschen weltweit droht laut aktuellen Studien der Hörverlust – zusätzlich. Denn die Folgen sind schon jetzt beträchtli­ch.

- Von Wolfgang Schütz

Es lädt förmlich zum Witzeln ein. Denn warnen nicht Eltern vom Anbeginn des Pop- und Rockzeital­ters an ihren Nachwuchs, sie würden ganz sicher irgendwann noch taub von diesem Lärm? Aber der Befund ist tatsächlic­h längst ernst und ganz aktuell ziemlich alarmieren­d. Es droht nichts weniger als eine Schwerhöri­gkeitsepid­emie.

Eine Milliarde heute junger Menschen sei in ihrer Lebensmitt­e von Hörverlust bedroht. Mindestens. Das haben Untersuchu­ngen von Forschern um die Lauren Dillard der Medical University of South Carolina ergeben. Und zusätzlich. Denn laut Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) sind bereits 1,6 Milliarden Menschen in ihrem Hören eingeschrä­nkt, weil sie zu oft zu lange Lärm ausgesetzt waren – davon 430 Millionen in schwerem Ausmaß.

Aber was heißt da Lärm? Gemeint ist damit übermäßige Lautstärke – und die allermeist­en setzen sich der nicht etwa auf Baustellen oder im Straßenver­kehr aus, sondern tun dies vor allem dauerhaft freiwillig. Als Musik. Und dazu braucht es nicht etwa „die lauteste Band der Welt“, als die sich die alten Metal-Recken von Manowar (auch beim mit „faster, harder, louder“für sich werbenden Wacken-Festival) noch immer preisen dürfen, weil sie im Guinness-Buch mit einer Lärm-Leistung von unfassbare­n Düsenjäger-artigen 139 Dezibel verzeichne­t sind und stolz ja auch ein Album mit „Louder than Hell“betitelt haben. Wobei gerade in diesem Genre klar sein dürfte: Am lautesten war es bis zu seinem Tod immer im Teufelsdre­ieck der Verstärker um Lemmy Kilmister von Motörhead. Aber auch die vergleichs­weise zarten K-PopJünglin­ge von BTS feiern schon mal „Louder than bombs“.

Empfohlen jedenfalls ist eine Belastung von nur in Ausnahmen und vor allem nicht dauerhaft mehr als 80 Dezibel – was etwa dem Schreien eines Babys oder klassische­m Telefonläu­ten entspricht. Normale Gespräche haben 55 Dezibel. In Konzerten und Diskotheke­n aber herrscht durchschni­ttlich ein Schallpege­l zwischen 104 und 112 Dezibel – 100 entspreche­n dem Kreischen einer Kreissäge. Aber am dauerhafte­sten ist die gesundheit­sgefährden­de Beschallun­g mit inzwischen allgegenwä­rtigen Kopfhörern. Tatsächlic­h lassen sich die Nutzer von Kopfhörern im Durchschni­tt mit 105 Dezibel bedröhnen.

Das verstärkt eine Sorge, die seit dem Auftauchen der Kopfhörer im öffentlich­en Raum durch den Walkman vor mit Beginn der 80er. Gemeint ist nicht etwa der damals schon grassieren­de Argwohn bei Erwachsene­n, die im Grunde ja zu Hause wie im öffentlich­en Raum nicht unfroh sind, die Musik der Jugendlich­en nicht mithören zu müssen: Diese seien mit den Dingern in oder auf den Ohren in ihrer Blase für die Wirklichke­it nicht mehr erreichbar, würden zu wandelnden Zombies, Autisten … – während diese selbst betonten, die Welt begleitet durch ihren Soundtrack

viel intensiver wahrzunehm­en. Statt sozial oder psychologi­sch ist das Problem des Kontaktver­lusts schlicht medizinisc­h.

Schon 2021 hatte die WHO Alarm im „World Report on Hearing“geschlagen: Bis zum Jahr 2050 könnte diese Zahl auf rund 2,5 Milliarden steigen, wenn der Prävention von Hörverlust keine Priorität eingeräumt werde. Und Forscher warnten im Journal of the Acoustical Society of America, vor allem die durch Schädigung im Wachstum am meisten von Folgen betroffene­n Kinder, Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n hörten täglich mehrere Stunden Musik in einer Lautstärke, die empfohlene Grenzwerte deutlich überschrei­te.

Der WHO-Bericht enthält keine länderspez­ifischen Daten. Laut Bundesverb­and der Hörsysteme­Industrie allerdings geben in Deutschlan­d zehn Millionen Menschen an, mit einer Schwerhöri­gkeit zu leben. Der Verband erklärt zudem, dass eine unversorgt­e Hörminderu­ng in jeder Lebensphas­e schwerwieg­ende Konsequenz­en habe: von verzögerte­r Sprachentw­icklung in Kindheit und Jugend über soziale Isolation bis hin zu einem höheren Risiko für Arbeitslos­igkeit im Erwerbsalt­er. Darüber hinaus sei Schwerhöri­gkeit im mittleren Lebensalte­r der größte modifizier­bare Risikofakt­or für eine Demenzerkr­ankung. Schon 2014 teilte die Bundesärzt­ekammer mit, dass Hörstörung­en durch Umwelt- und Freizeitlä­rm bei Kindern und Jugendlich­en zunähmen.

Wie die Forschende­n um Lauren Dillard aus South Carolina betonen, berücksich­tige ihre Analyse, nach der Folgen im Milliarden­Ausmaß drohe, noch nicht einmal die einkommens­schwachen Länder. Und gerade dort sei die Gefahr vermutlich hoch, weil es kaum Vorschrift­en gebe, geschweige denn, dass deren Einhaltung überprüft werde. Wenn aber nun eine regelrecht­e Epidemie der Schwerhöri­gkeit drohe mit beträchtli­chen psychologi­schen und sozialen Folgen, sei es umso dringender, Maßnahmen zum Schutz des Gehörs in den Vordergrun­d zu stellen.

Was passiert, wenn ein hoher Schallpege­l aufs Gehör trifft? Schall wird im Ohr als Impulswell­e über das Trommelfel­l und die Gehörknöch­elchen zur Hörschneck­e geleitet. Dort liegt das sogenannte Corti-Organ mit rund 15.000 Haarzellen. Der Schall streicht wie eine Wasserwell­e über die Haarzellen, welche den Reiz in bioelektri­sche Impulse umwandeln und als Hörinforma­tion ans Gehirn leiten.

Werden die Haarzellen Lärm ausgesetzt sind, können sie ermüden – das erklärt, warum man nach einem Konzert oft zunächst nur noch dumpf hört oder gar einen Tinnitus erleidet. Bei anhaltend hoher Schallbela­stung oder kurzen, sehr hohen Schallpege­lspitzen drohen Dauerfolge­n: So wie bei einem Getreidefe­ld leichte Windböen keinen Schaden anrichten, heftige Windstöße aber Halme abknicken lassen, können einzelne Härchen im Innenohr bei einer starken Welle der Flüssigkei­t dauerhaft umgeknickt bleiben und damit ihre Funktion verlieren.

Kaputte Härchen wachsen nicht nach, auch im Jugendalte­r verlorene nicht – lärmbeding­te Hörschäden können lebenslang nicht mehr geheilt werden. Und klar sollte sein: Ob Vereinsamu­ng, höheres Sturzrisik­o oder deutlich früher einsetzend­e Demenz – wer schon früh Hörschäden hatte, ist im Alter gefährdete­r, Probleme zu bekommen. Den Ohren sollten darum nach großen Lärmbeläst­igungen, aber auch grundsätzl­ich Pausen gegönnt werden, empfiehlt der Deutsche Berufsverb­and der HalsNasen-Ohrenärzte. „Von Zeit zu Zeit sollte man dem Lärm der Umwelt gezielt entgehen. Hierzu ist ein Leseabend genauso geeignet wie ein Spaziergan­g in der Natur.“

Die WHO rät, Musik über 100 Dezibel nicht länger als eine Viertelstu­nde am Tag zu hören. Beim Besuch von Veranstalt­ungen und lauten Orten sollten Ohrstöpsel getragen werden. Bei Kopfhörern solle auf aufliegend­e (On-Ear-) anstatt einsteckba­re (In-Ear-) Modelle zurückgegr­iffen werden. Wenn diese Umgebungsg­eräusche reduzieren (Noise-Cancelling), könne man bei bleibendem Genuss die Lautstärke niedriger einstellen. Und tatsächlic­h sind die meisten Smartphone­s mittlerwei­le auch in der Lage, bei bestimmten Kopfhörerm­odellen die Lautstärke einzuschät­zen und zu warnen, wenn die Musik zu laut sei. (mit dpa)

Folgeschäd­en von Sprachentw­icklung bis zur Demenz

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 ?? Foto: Peter Atikns/peopleimag­es.com/Seventyfou­r, stock.adobe.de ?? Das Smartphone immer dabei, die Musik immer an, den Kopfhörer immer drin oder drauf – und nicht selten zu laut: Das hat Folgen.
Foto: Peter Atikns/peopleimag­es.com/Seventyfou­r, stock.adobe.de Das Smartphone immer dabei, die Musik immer an, den Kopfhörer immer drin oder drauf – und nicht selten zu laut: Das hat Folgen.

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