Augsburger Allgemeine (Land West)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (137)
IStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
ch bestreite die Aussage derselben, sie mit dem damoz-Ritus geehelicht zu haben, zumal mir bewusst ist, dass oben genanntes einheimisches Ritual rechtlich keinerlei Bedeutung hat.
Auf die Frage der Staatsanwaltschaft: „Warum wähltet Ihr, bei den vielen in Addis Abeba ansässigen Eingeborenen, für die häuslichen Tätigkeiten ausgerechnet eine aus einem so entfernten Dorf?“, erwidert der Beschuldigte: „Ich bin Junggeselle und für die Beaufsichtigung hausfraulicher Tätigkeiten ungeeignet. Ich brauchte also eine vertrauenswürdige, sorgfältige Person. Diese Eigenschaften wurden mir von Leuten ihres Dorfes für die oben genannte Ezezew Abeba genannt. Außerdem erfuhr ich, dass sie unfruchtbar ist, was der Grund für die Auflösung ihrer Ehe war. Dies betrachtete ich aus offensichtlichen Gründen als eine Erleichterung der Verantwortung für ihren Anstand, die ich gegenüber ihrer Familie übernahm, indem ich sie aus ihrem
Dorf in die Hauptstadt brachte.“
Der Richter las Profetis Erklärung ein zweites Mal, die Augen zusammengekniffen. Ein Bürofenster ging auf den Vorplatz des Schwurgerichts von Italienisch-Ostafrika oben auf dem Hügel, in dem neuen Gerichtsbau mit seinen faschistisch klaren Linien. Das grau-grüne Laub eines Eukalyptusbaums vor dem Fenster ließ das Licht so frisch und rege auf die weißen Wände fallen wie seine Blätter. Es war also nicht die sengende Sonne Afrikas, vor der er instinktiv seine Augen schützte, indem er sie zusammenkniff. Was ihn blendete, war das ungeheure Maß an Heuchelei. Dieses Prozesses und aller seiner Darsteller. Die Heuchelei des Gesetzes, auf dem die Anklage fußte. Die Heuchelei von Profetis Antworten. Ganz zu schweigen von den Kolonialpolizisten (sämtlich rein italischer Rasse natürlich, denn das Ansehen verbot es indigenen Untergebenen, einen Italiener festzunehmen), die die
Häuser stürmten, um die Menschen beim Delikt des Madamatos in flagranti zu ertappen.
Ein Jahr zuvor hatte der Richter der Einsetzung der Kolonialpolizei beigewohnt. Vizekönig Graziani hatte, noch auf seinen Stock gestützt wegen der Verletzungen vom Attentat, den neuen Staatsdienern denkwürdige Worte mit auf den Weg gegeben.
„Dank eurer Wachsamkeit“, hatte er gesagt, „wird die Geißel der Promiskuität zwischen Weißen und Schwarzen und die Plage der Rassenmischung gnadenlos bekämpft werden. Dabei handelt es sich nicht nur um die strenge Anwendung eines Gesetzes oder um die bloße Verfolgung einer Straftat, auch nicht nur um die rigide Bewertung eines Rechts, das sie erforderlich macht, sondern schlicht und einfach um eine Art der kulturellen Erziehung. Und ich wage zu behaupten, in vielen Fällen ein Werk der Erlösung.“
Richter Carnaroli hätte nie gedacht, dass ein so düsterer und seelisch verkrüppelter Mann wie Graziani jemals der Quell von Heiterkeit sein könnte. Doch bei seinen letzten Worten musste er einen Hustenanfall vortäuschen, um sich das Lachen zu verkneifen, das ihn in der Kehle kitzelte. Als wüssten nicht alle nur zu gut – Vizekönig, Gouverneure,
Richter und hinab bis zum letzten Arbeiter, der Steine für die neuen imperialen Straßen schlug –, dass zwei Drittel (vorsichtig geschätzt) dieser vor den Standarten in die Brust geworfenen Polizisten zu Hause eine einheimische Frau sitzen hatten, die ihnen Hausmädchen, Frau, Köchin und Hure zugleich war. Und fast jeden Abend für Erlösung sorgte.
Dann war es der harte, eindeutige Satz General Nasis gewesen, der alles zusammenfasste: „Aut imperium aut voluptas“. Als sei das eine englische Kolonie! Hätten die Italiener sich tatsächlich zwischen Imperium und Wollust entscheiden müssen, hätte Italienisch-Ostafrika wohl kaum mehr als eine Woche überdauert. Denn sie schafften es einfach nicht, ihn in der Hose zu lassen. Hier in den Kolonien, besser gesagt hier im Imperium, wie es nun hieß, schien es nur zwei Themen zu geben, die in aller Männer Munde waren: erstens der Gebrauch des eigenen Geschlechtsorgans und zweitens die panische Angst vor dem Verlust desselben durch einen Schnitt – Graziani nicht ausgenommen, wenn man der Geschichte von den unanständigen Bildern Glauben schenkte. Aber wie hätten die Kolonisten auch nicht ständig an Sex denken sollen. Sie waren an die Hunderttausend, weiße Frauen hingegen gab es nur wenige Tausend. Die Familien der Kolonisten kamen nicht nach, das Leben war hart. Sie gingen als überzeugte Faschisten von Bord, bereit dem Duce zu dienen, doch kaum rochen sie eine schöne Abessinierin, verschwand ihr Faschismus durch die Hintertür. In Wahrheit, so hatte ein Kollege in einem Artikel gegen diese Gesetze argumentiert, der natürlich nicht erschienen war, kehrten „die Siedler, die einmal die Umarmung einer Afrikanerin genossen haben, nur widerstrebend zu der italienischen Frau zurück, und seien sie noch so große Anhänger des Rassismus“. Und er wusste, dass das stimmte.
Wie wahrscheinlich auch dieser Attilio Profeti. Er hatte sich als Freiwilliger zum Krieg gemeldet, doch besonders kampflustig wirkte er nicht. Ein gut aussehender junger Mann, nicht dumm, der Gang ein bisschen unbestimmt, ein bisschen eitel, einer von den vielen, die das Schwarzhemd eher als Heldenkostüm denn aus Überzeugung übergezogen hatten.
Die Indizien gegen ihn waren erdrückend. Die „Gemeinschaft von Tisch und Bett“zwischen ihm und der Ezezew ließ sich kaum leugnen. In seinem Haus hatte man ein richtiggehendes Ehebett gefunden. Er jedoch wies die Anschuldigungen zurück.
Auf die Frage erwidert der Angeklagte: „Meine Körpergröße hat mich dazu veranlasst, ein Bett solcher Breite zu kaufen, für meine persönliche Bequemlichkeit; die Ezezew schlief hingegen nach Brauch der Eingeborenen auf einer Matte auf dem Küchenboden.“
Verschiedene Zeugen hatten darüber hinaus bestätigt, dass die Mitbewohnerin Geschenke erhalten hatte: einen Schal der Eingeborenen aus Baumwollgarn, einen Silberspiegel – alles Beweise für eine Liebesbeziehung. Der Verteidiger aber hatte diese Lesart in seinem Plädoyer zurückgewiesen.
Erwähnte kleine Geschenke waren Profetis Art, die Ezezew zu belohnen, weil sie die häuslichen Aufgaben, für die sie angestellt worden war, mit Sorgfalt und Präzision erledigte. Wie man auch Arbeitstiere durch Streicheln oder kleine Leckereien belohnt, wenn sie gehorsam sind.
Dem Richter schwoll die Stirnader, ein bitterer Geschmack stieg in ihm auf, den er nicht hinunterschlucken konnte. Früher oder später würde er krank darüber werden, das wusste er, diese Gesetze mit seinen Urteilen bestätigen zu müssen. Vor allem weil er, wenn er die Augen schloss, immer wieder ihr Gesicht vor sich sah.